Nürtingen. „Es ist wieder hier. Genau dort, wo es schon einmal gebrannt hat“, ruft ein Polizeibeamter am Freitagmittag in sein Telefon. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren stand hier in der Schafstraße das Gebäude mit der Hausnummer 2 lichterloh in Flammen. Zwei Menschen waren damals bei dem Feuer ums Leben gekommen. Nur einen Tag später, am 2. November 2020, war ein Feuer in dem Nachbargebäude ausgebrochen.
Am Freitagmittag gegen 11.45 Uhr wird die Feuerwehr wieder in die Schafstraße gerufen, dieses Mal zum Haus Nummer 6. Rauch steigt aus dem Dachfenster auf. Die Situation vor Ort erinnert stark an den Brand vor zwei Jahren: Wieder ist die Feuerwehr mit einem Großaufgebot angerückt, wieder müssen Menschen aus ihren Wohnungen evakuiert werden. Auch Rettungsdienst und Polizei sind im Einsatz.
Während die Feuerwehr den Brand im Badezimmer der Dachgeschosswohnung bekämpft, haben sich die Bewohner des Hauses – elf Menschen mit zwei Kinderwagen – auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt. Eine junge Mutter sitzt in eine Decke gehüllt und mit Tränen in den Augen auf dem Boden. Sie ist eine der wenigen Personen, die etwas Deutsch spricht. „Ich war nicht zu Hause, sondern in der Stadt. Als ich zurückkam, habe ich von weitem Rauch gesehen.“ Ob sie wieder zurück in ihre Wohnung können, wissen die Menschen zu diesem Zeitpunkt nicht. Nur wenige Minuten später erfahren sie von einem Feuerwehrmann, dass ihr Zuhause bis auf Weiteres unbewohnbar ist. Der Sachschaden wird auf insgesamt 20 000 Euro geschätzt. Wie auch vor zwei Jahren rückt das Ordnungsamt an. Die Menschen müssen anderweitig untergebracht werden, zur Not in den Obdachlosenunterkünften der Stadt.
Auch zahlreiche Anwohner und Schaulustige sind gekommen – fassungslos angesichts der sich wiederholenden Tragödie. „Es müssen erst wieder Leute sterben, bevor hier etwas passiert“, wütet ein Anwohner der Schafstraße und zeigt auf die beiden anderen Brandhäuser. Besonders die Ruine des Gebäudes Nummer 2 wirkt wie ein vor sich hinvegetierendes Mahnmal. Sträucher wachsen mittlerweile aus dem abgebrannten Dachstuhl, ein Werbeschild der Kneipe, die sich früher im Erdgeschoss befand, hängt herunter. Um Fußgänger zu schützen, wurde ein Bauzaun auf dem Bürgersteig aufgestellt. Dahinter stehen zwei Kerzen auf einer Fensterbank, im Gedenken an die beiden Todesopfer.
„Wenn es stürmt, fallen die Ziegel runter“, regt sich der Anwohner immer weiter auf: „Wenn man sich bei der Stadt beschwert, bekommt man nur zu hören, dass die nicht für das Gebäude verantwortlich sind.“ Auch auf frühere Presseanfragen hatte die Stadt mitgeteilt, dass der Eigentümer entscheiden müsse, was mit dem Gebäude passiert. Zahlreiche Hinweise, unter anderem Aussagen von Bewohnern, hatten auf eine völlige Überbelegung der Wohnungen, miserable Zustände und Mietwucher hingedeutet. Beide Gebäude gehören demselben Eigentümer. Ist es nur ein unglücklicher Zufall, dass nun das dritte Gebäude in der Häuserreihe brennt? Auch die Vermieterin der Wohnungen in dem Mehrfamilienhaus Nummer 6 ist am Freitag in die Schafstraße gekommen, um sich nach dem Wohlbefinden ihrer Mieter zu erkundigen. In den vier Wohnungen sollen insgesamt neun Menschen gewohnt haben, sagt die Frau. Sie selbst habe das Gebäude gemietet und an die Leute untervermietet. Eigentümer soll die selbe Familie sein, der auch die Gebäude 2 und 4 gehören.
Nach den beiden Bränden Ende 2020 hatte die Stadt Nürtingen jegliche Kritik von sich gewiesen. Die Begründung: Den Kommunen fehle die rechtliche Handhabe um private Wohnungen zu prüfen und gegen prekäre Wohnverhältnisse vorzugehen. Kritik hatte es unter anderem vom Deutschen Mieterbund gegeben, der vor weiteren Tragödien dieser Art warnte. Die Stadt Nürtingen hat mittlerweile eine Stelle eingerichtet, die Hinweise auf prekäre Wohnverhältnisse entgegennimmt. Im Fall der beiden ersten Brände hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts der Brandstiftung mit Todesfolge aufgenommen. Auf Anfrage teilt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mit, dass die Ermittlungen noch immer andauern. Im Fall des aktuellen Brandes hat das Polizeirevier Nürtingen mit Unterstützung von Spurensicherungsexperten der Kriminalpolizei die Ermittlungen zur Brandursache aufgenommen.