Reise
In Indien am Lehrerpult: Ötlingerin unterrichtet angehende Krankenschwestern in Deutsch

Die pensionierte Lehrerin Doris Winkler hat sich eine ungewöhnliche Beschäftigung für ihren Ruhestand gesucht: Sie bringt Krankenschwesternschülerinnen in einem indischen Dorf die deutsche Sprache bei.

Doris Winkler mit einer der beiden Schulklassen, die sie unterrichtet. Foto: Doris Winkler

Ruhestand ist nicht gleich Stillstand – das hat die Ötlingerin Doris Winkler eindrucksvoll bewiesen. Statt sich von ihrem Alter an gewohntes Terrain fesseln zu lassen, hat die 71-Jährige, ohne lange zu fackeln, ihre Koffer gepackt und tausende Kilometer entfernt ein neues Abenteuer gewagt: In einem abgelegenen Dörfchen in Indien findet sich Doris Winkler im vergangenen Winter wieder vor der Kreidetafel.

Ich kam morgens ins Klassenzimmer und alle haben mich angestrahlt. 

Doris Winkler, pensionierte Lehrerin

Es war für sie nicht das erste Mal im Land der Farben und Gewürze. Als Missionarin lebte Doris Winkler 1980 bereits ein halbes Jahr in Indien. Den Gedanken, wieder dorthin zurückzukehren, säte Owens ehemaliger Pfarrer Dr. Ekkehard Graf, den Winkler durch eine Freundin kennt.

Neben seiner Position als Dekan in Marbach am Neckar ist Ekkehard Graf seit 2016 Vorstandsvorsitzender der Nethanja-Kirche, ein evangelisches Missions- und Sozialwerk, das an vier Standorten im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh mehr als 1500 Gemeinden sowie Kinderheime, Schulen, Ausbildungsstätten, Krankenhäuser, Wohnheime und andere soziale Einrichtungen betreibt.

Das Krankenhaus an einem der vier Standorte der Nathanja-Kirche. Foto: Doris Winkler

Seine regelmäßigen Indienreisen dokumentierte Ekkehard Graf via Kamera und teilte sie mit der Bekanntschaft daheim – darunter auch Doris Winkler. Und als der Dekan dazu einlud, ihn doch bei seiner nächsten Reise zu begleiten, ließ sich Doris Winkler das nicht zweimal sagen.

Gesagt, getan: Wenige Monate später, im Januar 2024, saß die Ötlingerin gemeinsam mit fünf weiteren Interessierten im Flieger. „Um alles kennenzulernen“ tourte die Gruppe insgesamt 14 Tage lang durch Andhra Pradesh. Beim Abschied, so Winkler, sei Jeevan Komanapalli, der Leiter von Krankenhaus und Krankenpflegeschule, ganz plötzlich auf sie zugekommen. „Er sagte mir: Doris, du bist doch Lehrerin für Deutsch und Englisch. Würdest du dir überlegen, eine Weile zu kommen, um die Krankenschwesternschülerinnen in Deutsch zu unterrichten?“

Die Seniorin gesteht: Erneut vor einer Schulklasse zu stehen, sei nicht unbedingt Teil ihrer Ruhestandspläne gewesen. „Ich habe immer gesagt, dass ich in meinem Leben genug unterrichtet habe.“ Als sich diese Tür öffnete, habe sie jedoch keinerlei Zweifel gehabt, eine neue Berufung gefunden zu haben.

Von ihren Schülerinnen wird Doris Winkler mit einem Tafelbild empfangen – natürlich auf Deutsch. Foto: Doris Winkler

Die Frauen sollen nach Deutschland kommen können

Nach einem langen Jahr wird aus Planung endlich Realität. „Es kamen eigentlich nur die Wintermonate in Frage, weil das Klima da erträglich ist“, erklärt Doris Winkler. Selbst während dieser Zeit, zu der es in Deutschland fröstelt, können die Temperaturen im Südosten Indiens über die 30-Grad-Marke klettern, in den Folgemonaten wird es oft weit über 40 Grad heiß.

Auch die Anreise ist kein Spaziergang im Park: Zuerst geht es nach Frankfurt, von dort aus ist man via Flugzeug binnen etwa acht Stunden in Delhi. Anschließend folgt ein Inlandsflug in die Zweimillionenstadt Visakhapatnam, ab da sind es noch rund 60 Kilometer bis nach Kondala Agraharam – das kleine Dörfchen, das Doris Winkler für die anschließenden zwei Monate ihre Heimat nannte.

Neben der Krankenpflegeschule befindet sich dort unter anderem eine Kirche, ein Schwesternwohnheim, ein Krankenhaus und nicht zuletzt das Bischofs- und Gästehaus, in dem Doris Winkler ein Zimmer bewohnte.

Gelebt wird insbesondere in den ländlichen Gegenden zum Teil noch sehr einfach. Foto: Doris Winkler

Als Lehrerin war sie vor Ort für zwei Schulklassen aus jungen Frauen zwischen 19 und 22 Jahren zuständig. Unterrichtet wurde an sechs Tagen die Woche, täglich zwei Stunden pro Klasse. Da die Schülerinnen zu Beginn nur wenig bis keine Deutschkenntnisse hatten, verlief die Kommunikation zum Großteil auf Englisch. Neben Englisch und Hindi ist Deutsch die dritte Fremdsprache der Frauen. „Jeder Staat in Indien hat eine eigene Sprache und ein eigenes Skript“, erklärt Doris Winkler. Die Landessprache in Andhra Pradesh nennt sich Telugu.

Die Idee hinter den Deutschkursen ist, dass die zukünftigen Krankenschwestern nach der Ausbildung die Möglichkeit haben, nach Deutschland zu ziehen und ihren Beruf dort auszuüben. Wie Doris Winkler berichtet, hat der Unterricht ihren Schülerinnen – „my girls“, wie sie die jungen Frauen liebevoll nennt – mindestens ebenso viel Freude bereitet wie ihr selbst: „Ich kam morgens ins Klassenzimmer und alle haben mich angestrahlt“, schwärmt die Lehrerin. „Ich habe diese reizenden, jungen Frauen so sehr ins Herz geschlossen. So freundliche und motivierte Schülerinnen zu haben, ist ein Traum.“

Doris Winkler und ihre Schülerinnen "in Aktion". Foto: Doris Winkler

Kleider machen Leute

Strenggenommen sind die Lehrerinnen in Nethanja-Schulen zum Tragen eines sogenannten Saris verpflichtet. Dieses traditionelle indische Kleidungsstück besteht für gewöhnlich aus einem langen Baumwolltuch, das kunstvoll um den Körper gewickelt wird. Mit dem Anlegen des Saris sei sie aber nicht so richtig zurechtgekommen, gesteht Doris Winkler lachend.

Trotzdem habe sie stets darauf geachtet, sich indisch zu kleiden. Die gängige Kleidung der Mädchen und vieler Frauen besteht in Indien aus einer lange Hose, einer Kurta – ein Oberteil, das mindestens bis übers Knie reicht – und einem Schal. „Für mich war das ganz arg wichtig, denn es zeigt Respekt vor dem Land und den indischen Menschen“, erklärt sie. Auch bei ihren „Girls“ seien die Outfits gut angekommen: „Jedes Mal, wenn ich etwas Neues anhatte, haben sie mir Komplimente gemacht und gesagt: Wow! You look so good!“

Sai Srujina, eine von Doris Winklers Schülerinnen, ist auch eine begnadete Tänzerin. Foto: Doris Winkler

Gut zu wissen: Der Schal, auch Dupatta gennant, ist für die Inderinnen ausgesprochen wichtig. „Ohne ihn fühlen sie sich nur halb angezogen“, stellt Doris Winkler klar. Anders als in den meisten westlichen Ländern üblich wird der Schal dort aber nicht um den Hals gewickelt, sondern von vorne nach hinten über die Schultern gelegt, sodass er ein „V“ auf der Brust bildet.

Der Dschungel ruft

Die unterrichtsfreie Zeit verbrachte Doris Winkler zum Großteil innerhalb der Mauern des Nethanja-Geländes, dem sogenannten Compound. Winkler zufolge habe man ihr davon abgeraten, alleine draußen unterwegs zu sein – aus Sicherheitsgründen, wie sie vermutet. „Spazierengehen gibt es in Indien nicht“, bedauert die leidenschaftliche Wanderin.

Für die Entlassfeier der Krankenschwesternschülerinnen muss auch gekocht werden. Foto: Doris Winkler.

Doch Doris Winkler sah den Compound natürlich nicht nur von innen. Immer wieder bot sich ihr die Chance, am kulturellen Leben vor Ort teilzuhaben. Als „Special Guest“ war sie bei Veranstaltungen, darunter auch eine Feier zum indischen Tag der Republik am 26. Januar, sehr gefragt: „Ich kam dort an und sah plötzlich ein Banner mit meinem Gesicht darauf“, lacht die Ruheständlerin.

Besonders eindrucksvoll, so Winkler, seien die Ausflüge in das Gebiet gewesen, das die Einheimischen als „Dschungel“ bezeichnen. Auch wenn es der Name anders vermuten lässt – mit einem tropischen Regenwald hat das Terrain wenig tun. „Es ist sehr ländlich, es gibt viele Reisfelder und viel Wald“, beschreibt Doris Winkler. Da die Gegend vom Staat „total vernachlässigt“ werde, sei es sehr mühsam, dorthin zu kommen. „Es ist sehr uneben und es gibt keine richtige Straße.“

Hier, im "Dschungel", reiht sich Reisfeld an Reisfeld. Foto: Doris Winkler

Davon ließ sich die Gruppe jedoch nicht aufhalten. Doris Winkler erzählt, schon bei der deutlich kürzeren Reise im letzten Jahr für einige Tage im Dschungel gewesen zu sein. Damals sei sie sowohl bei zwei Flusstaufen als auch bei der Einweihung zweier Kirchen in örtlichen Dörfern dabei gewesen.

Hinduismus trifft Christentum

Die Gelegenheit für einen Ausflug in die abgelegene Gegend bot sich Doris Winkler auch in der letzten Woche ihrer jüngsten Reise. Dort, inmitten eines weiten Meers aus mehr oder weniger dichtem Grün, durfte sich die Ötlingerin unter die Gäste einer christlich-indischen Hochzeit mischen – ein wirklich „wunderbares Erlebnis“, resümiert Doris Winkler. Trotz gleichen Glaubens unterscheiden sich christliche Hochzeiten in Indien in vielerlei Hinsicht von denen im Westen und sind oft ein Mix aus typisch-westlichen und lokalen Traditionen.

So tragen christlich verheiratete Frauen in Indien zwar einen Ehering, das eigentliche Zeichen der verheirateten Frau ist jedoch eine dreifach geknotete Schnur, die ihr von ihrem Bräutigam angelegt wird – ein Brauch, der in Indien sowohl im Christentum als auch im Hinduismus Bestand hat. Während die drei Knoten im christlichen Verständnis für die Dreifaltigkeit stehen, können die hinduistischen drei Knoten des Mangalsutra mehrere Bedeutungen haben: Einige interpretieren sie als Symbole für den Segen der Götter Brahma, Vishnu und Shiva; für andere repräsentieren sie verschiedene Versprechen des Bräutigams oder die Verbindung zwischen Mann, Frau und beiden Familien.

Hochzeiten sind in Indien traditionell ein farbenfrohes Spektakel. Foto: Doris Winkler

Das absolute Highlight war für Doris Winkler jedoch die Einweihung einer neuen Kirche, die sie einem der Dörfer im Dschungel gespendet hatte. „Es gab ein richtiges Fest“, erinnert sie sich. Menschen seien aus den umliegenden Ortschaften angereist, Blütenblätter seien durch die Luft geflogen, man habe getanzt, gesungen und getrommelt.

Wie Doris Winkler erzählt, habe der Eröffnungsgottesdienst aus Platzgründen in einem großen Zelt stattgefunden; anschließend wurde gemeinsam gegessen. „Das Kirchle selbst einweihen zu können, war ein großer Wunsch von mir“, gesteht die Christin. „Es war eine ganz, ganz besondere Erfahrung.“

Ein Land mit vielen Facetten

Doch obwohl die Zeit in Indien „ein echter Gewinn“ für die 71-Jährige war, erfuhr sie dort doch den ein oder anderen Kulturschock. Das Leben, so Winkler, sei noch immer deutlich einfacher – wenn auch nicht ganz so einfach wie in den 80er-Jahren, als man vor dem Kochen noch die Fremdkörper aus dem Reis fischen musste und es statt einer Dusche nur einen Eimer mit Schäpfchen gab.

Vor allem eine Sache habe sich aber laut Doris Winkler noch immer nicht geändert: „Wo man geht und steht, liegt Müll. Die Leute werfen alles einfach auf den Boden. Daran werde ich mich nie gewöhnen können.“

Derart beladene Fahrzeuge sind in Indien kein allzu seltener Anblick. Foto: Doris Winkler

Mehr als befremdlich sei ihr auch das hinduistische Kastensystem, das den Wert eines Menschen anhand seiner „Kaste“, einer Art Rang, bestimmt: Ganz oben die Brahmanen, ganz unten die Dalits – Kastenlose, in deren Alltag Ausgrenzung, Diskriminierung, sogar Gewalt, noch immer an der Tagesordnung stehen.

„Dieses System, das eigentlich nur Vorteile für die zwei obersten Kasten bringt, wurde zwar offiziell abgeschafft, aber es ist noch unheimlich tief in den Hinterköpfen verankert“, berichtet Doris Winkler. Weiterhin sehr weit verbreitet sei auch die Diskriminierung von Witwen, die für den Tod ihres Mannes verantwortlich gemacht und von der Gesellschaft verstoßen werden. „Aus diesem System auszubrechen, ist ganz schwierig“, bedauert sie. „Das geht nur durch Bildung.“

Zwei Bäuerinnen in Kondala Agraharam. Foto: Doris Winkler

Über Indien hat Doris Winkler gleichermaßen aber auch viel Gutes zu berichten. Zuhause in Deutschland vermisse sie besonders das „superleckere“ indische Essen und die grundherzliche Einstellung vieler dort lebender Menschen. „Man erfährt so viel Gastfreundschaft“, schwärmt sie. Das Land beheimate „so unfassbar viele liebe, fröhliche Menschen“ – und das, obwohl die meisten nicht wohlhabend seien. „Das macht einem auch selbst Mut und bringt einen dazu, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.“

Doris Winkler darf auch einmal mit anpacken und den Kochlöffel schwingen. Foto: Doris Winkler

Kein Abschied auf ewig

Am meisten fehlen Doris Winkler jedoch ihre „Girls“. Der Abschied fiel allen Parteien schwer, leichter machte ihn die Aussicht auf ein Wiedersehen. Bis die zukünftigen Krankenschwestern ihre Deutschkenntnisse auf ein umzugsreifes Level gebracht haben, ist noch einiges an Arbeit nötig, und dabei will Doris Winkler ihren Schülerinnen natürlich vor Ort unter die Arme greifen. Eine erneute Reise im kommenden Winter befindet sich daher bereits in der Planung. Bis dahin wird Doris Winkler die Klassen über Zoom unterrichten, „damit sie nicht alles vergessen“.

Die Lehrerin schließt nicht aus, noch einige Male zurückzukehren. „Die größte Motivation, um wiederzukommen, sind natürlich diese wunderbaren Frauen.“