Emilia (Name geändert) ist ein Kind, das es seinen Erzieherinnen in der Kita nicht einfach macht. Mit fünf Jahren kann sie kaum eine längere Zeit ruhig sitzen. Auf etwas warten? Für sie unerträglich. Veränderungen? Bringen sie durcheinander. In einem Spielkreis mit anderen Kindern mitmachen? Undenkbar.
Emilia ist ein Kind, das eigentlich kein Inklusionsfall ist: weder körperlich noch geistig behindert, vielleicht etwas verhaltensauffällig. Emilias gibt es viele. Auch Emils. Oder Leons. Oder Sophias. In allen möglichen Kitas. Unterschiedlich im Verhalten, das aber immer als herausfordernd empfunden wird. Die anderen Kinder gehen auf Abstand. Die anderen Eltern reden von „Nervensägen“ oder gar „Rabauken“ – hinter vorgehaltener Hand, versteht sich. Erzieherinnen und Erzieher bringen „diese Kinder“ schon mal an den Rand. Wenn man gar nicht weiter weiß, wird der Betreuungsvertrag gekündigt. Die übrigen Kinder sind schließlich auch noch da.
Genau hier – und damit das nicht passiert – setzt der 2020 gestartete Modellversuch Inklusion an, der vom Forum Frühkindliche Bildung (FFB), einer Einrichtung des baden-württembergischen Kultusministeriums, umgesetzt wird. Aus den Stadt- und Landkreisen, die sich beworben haben, wurden acht ausgewählt, nach einem Schlüssel, der die demographische Struktur des Landes spiegelt, wie ein FFB-Sprecher sagt. Also die Verteilung der Bevölkerung in ländliche Räume, Ballungsgebiete und Großstädte. Zu den ausgewählten zählt der Kreis Esslingen. Kern des Projekts ist eine Art Coaching von Kita-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: die Begleitung in einem rund anderthalbjährigen Prozess, die „praxisnahe Impulse“ mit der „Reflexion im Team der pädagogischen Fachkräfte“ verbindet. Prinzipiell kann jede Einrichtung im Kreis Esslingen teilnehmen, allerdings ist die Nachfrage größer als „die Personalressourcen des Modellversuchs“, ist aus dem Kreisjugendamt zu hören.
Wissenschaftliche Basis des Versuchs ist ein erweiterter Inklusionsbegriff, der die schematische Unterscheidung zwischen „Behinderten“ und „Normalen“ als ihrerseits diskriminierend zurückweist. Auf der Homepage des FFB wird die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel mit ihrer Definition von Inklusion als „umfassende Anerkennung heterogener Lebensweisen“ zitiert. Über die Trennlinie zwischen behindert und nicht-behindert hinaus werden weitere Unterschiede in den Blick genommen, die für inklusives Handeln relevant sein können, etwa soziale, ethnische oder religiöse Hintergründe, Geschlecht, Sprachkompetenz.
Damit soll der Inklusionsbegriff gerade nicht bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht, sondern bis zur Vielfalt differenziert werden: als orientierendes Wissen, das sich nicht an wenigen exklusiven Merkmalen (wie jenen einer Behinderung) festmacht. Ziel dabei sei, so der FFB-Sprecher, dass „Unterschiedlichkeit nicht mehr als Bedrohung oder Verunsicherung wahrgenommen wird, sondern als selbstverständlicher Teil des Kita-Alltags“.
Leicht gesagt – und durch die fachliche Begleitung im Rahmen des Modellversuchs offenbar tatsächlich etwas leichter gemacht. Zumindest äußern sich in einer ersten Bilanz 87 Prozent der teilnehmenden pädagogischen Fachkräfte in den Kitas „sehr zufrieden“ mit den bisherigen Ergebnissen. Ellen Resch vom Kindergarten Kelterplatz in Neuffen kann dem nur beipflichten: „Wir gehen dank der fachlichen Begleitung viel souveräner mit Inklusion um. Sich jedes Kind in seiner Individualität anzuschauen, ist bei uns im Haus inzwischen fast Standard.“ Ein Mädchen mit Down-Syndrom etwa oder ein Kind mit Fluchterfahrung aus Syrien hätten durchaus einen „besonderen Förderbedarf“. Sie gleichzeitig als „ganz selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft“ wahrnehmen zu können, sei ein Erfolg des Projekts. Das im Übrigen nicht nur die Unterschiedlichkeit der Kinder, sondern auch „die unterschiedlichen Wertesysteme in unserem sehr bunten pädagogischen Team“ thematisiert und aufgearbeitet habe.
Auch Anne Müller vom Plochinger Kindergarten St. Konrad resümiert: „Wir sehen an uns, den Kindern und auch den Reaktionen von Eltern, dass wir uns auf einem guten Weg befinden.“ Dieser gute Weg kann zum Beispiel zu der Einsicht führen, dass eine Emilia – wie „eigentlich alle Kinder“, so Müller – zwar Hilfe zur Inklusion braucht, aber kein „Fall“ ist. Durch gemeinsames Beobachten und Nachdenken gelang es, den Schlüssel zu finden, der ein Kind öffnete. Das Mädchen interessiert sich sehr für den menschlichen Körper: Wie was heißt, was wie funktioniert. Also wurden Spiele mit Benennung der Körperteile eingeführt, Bücher zum Thema in die Leseecke gestellt, das Basteln eines Skeletts angeboten – und plötzlich war die Kleine große Expertin, steckte andere mit ihrer Begeisterung an, wurde inkludiert und inkludiert nun selbst.