Neckarspinnerei in Wendlingen
Innovatives Wohnen für 350 Euro warm

Das Wohnen neu denken: In der Wendlinger Neckarspinnerei leben und arbeiten bis Oktober im Zuge eines IBA’27-Projekts des Stuttgarter Vereins Adapter acht Probanden. Jeder hat zwölf Quadratmeter privaten Rückzugsraum.

Thea Marie Eilers und Paul Vogt sind zwei von künftig acht Bewohnern, die bis Oktober in der Neckarspinnerei wohnen. Foto: Kerstin Dannath

Spannend werde die Sache mit dem Fensterputzen, sagt Thea Marie Eilers und lässt ihren Blick über die 36 Sprossenfenster, jedes etwa zweieinhalb Quadratmeter groß, im ehemaligen Spinnereisaal der unter Denkmalschutz stehenden Wendlinger Neckarspinnerei schweifen. Die Produktion wurde vor vier Jahren eingestellt - ein paar Sonnenstrahlen suchen verzweifelt ihren Weg durch die verstaubten einfachen Glasscheiben. Eilers ist freischaffende Theaterpädagogin und eine von acht Probanden, die an einem Wohnprojekt des Stuttgarter Vereins Adapter teilnehmen. Die gemeinnützige Organisation, ursprünglich eine Ausgründung der Architekturfakultät der Universität Stuttgart, will beweisen, dass temporär leerstehende Raumressourcen aktiviert werden können, um neue Formen des Wohnens zu schaffen. Dabei sollen auch die sozialen Dimensionen des Wohnens untersucht und neue Wege aufgezeigt werden.

Es hatten ein paar ältere Menschen Interesse, die haben dann aber doch einen Rückzieher gemacht.

Paul Vogt von Adapter.

 

Gewohnt wird im von Adapter entwickelten Raum-in-Raum-System „Endo“. Jedem Teilnehmer steht ein mit Schiebetüren abtrennbares Modul aus Holz mit zwölf Quadratmetern als persönlicher Rückzugsort zur Verfügung. Die einzelnen Module sind per Infrarot-Paneel beheizbar und haben einen integrierten Schallschutz. Dazu kommen im gemeinschaftlichen Bereich vier Badmodule und zwei Küchen. Drumherum ist viel Platz, insgesamt 1400 Quadratmeter im Erdgeschoss der alten Spinnerei stehen zur freien Verfügung. Wie die einzelnen Module platziert sind, haben die Bewohner selbst entschieden, sagt Richard Königsdorfer von Adapter. Manche wollten näher an die Gemeinschaftsbereiche, andere schätzen ihren Privatraum oder sitzen im Homeoffice und halten lieber Abstand. „Wir haben in Workshops versucht herauszufinden, wo unsere Grenzen sind. Klar war, dass der eigene Kubus für alle ein sehr persönlicher Raum ist“, ergänzt Eilers. Sie selbst ist 24 Jahre alt, kommt ursprünglich aus Mitteldeutschland und hat zuletzt mitten in der Stuttgarter City wegen eines Jobs am Theater Rampe gewohnt.

„Es hatten ein paar ältere Menschen Interesse“

Auch die übrigen sieben Wohnpioniere kommen fast alle aus Stuttgart, die Altersspanne reicht von 4 Jahren bis Ende 30. Was die meisten Probanden laut Königsdorfer eint, ist, dass viele an einem Punkt in ihrem Leben angekommen sind, an dem sich etwas ändern wird – etwa ein Jobwechsel, ein Studienabschluss oder eine Scheidung. Ursprünglich war angedacht, dass die Probanden einen kompletten Querschnitt der Gesellschaft abbilden sollen – auch Senioren sollten einziehen. „Es hatten ein paar ältere Menschen Interesse, die haben dann aber doch einen Rückzieher gemacht“, bedauert Paul Vogt von Adapter. Er ist das einzige Vereinsmitglied, das ebenfalls in die temporäre Wohngemeinschaft zieht. Seine Stuttgarter Wohnung hat der freie Architekt solange untervermietet.

Lange Suche nach einem geeigneten Areal

Eigentlich hätte das Wohnprojekt bereits Anfang Mai starten sollen, doch die Finanzierung hing lange in der Schwebe, wie Königsdorfer erzählt. Erst Mitte März kam die Zusage des Verbands der Region Stuttgart, das Adapter-Wohnexperiment, das Teil der Internationalen Bauausstellung IBA’27 ist, mit 176. 000 Euro zu unterstützen. Erst dann konnten die Wohnmodule bei einer Schreinerei in Kornwestheim in Auftrag gegeben werden. Insgesamt kalkuliert Adapter mit Kosten von 340 .000 Euro für die temporäre WG in der Neckarspinnerei. Den restlichen Betrag schießt die Stuttgarter Vectorstiftung zu. Auch die Probanden tragen mit einer Warmmiete von monatlich 350 Euro ihren Teil bei.

Der 2019 gegründete Verein Adapter war lange auf der Suche nach einem geeigneten Areal. Bei der Wendlinger HOS-Gruppe, der das 4,7 Hektar große Neckarspinnerei-Quartier (NQ) gehört, rannten die Stuttgarter offene Türen ein. Aber auch die Verantwortlichen bei IBA’27 haben ein waches Auge auf das Adapter-Projekt. „Zwischennutzung als belebendes Element in der Stadtentwicklung zu etablieren, ist ein Ziel der IBA“, bestätigt IBA-Pressesprecherin Thea Leisinger. Adapter biete mit seinem Modulsystem „Endo“ eine Lösung, wie Zwischennutzungen an vielen Orten und in verschiedensten Räumen möglich seien. „Wir versprechen uns davon, dass künftig Leerstände in der Region Stuttgart als Chance erkannt werden können. Wir sehen das Potenzial vor allem bei Flächen, Gebäuden und Quartieren, die sich in der Entwicklung befinden.“

In der alten Spinnerei überlegen Eilers und Vogt inzwischen, was es zum Abendessen geben soll. Bis zum Ende der Woche werden alle Bewohner eingezogen sein. Wie sich dann das Zusammenleben wohl gestalten wird? „Das wird sich finden“, sagt Vogt. Man darf gespannt sein, ob die alten Sprossenfenster vielleicht schon bald auf Hochglanz gebracht werden.

Temporäre Leerstände sinnvoll nutzen

Verein: Der gemeinnützige Verein Adapter hat sich auf die Fahnen geschrieben, temporär leer stehende Häuser zu aktivieren. In Stuttgart ist er derzeit auf der Königsstraße zugange: „1A Lage“ heißt das Reallabor mitten in der City – dort werden bei dem Projekt „Akut – Transformationsstrategien für die Innenstadt“ Nutzungskonzepte entwickelt und erprobt.

Neckarspinnerei: Das Quartier in Wendlingen ist ein Projekt der Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA’27). Die Produktion in der Neckarspinnerei wurde 2020 eingestellt, seitdem wird das denkmalgeschützte Ensemble von der HOS-Gruppe – HOS steht für Heinrich Otto & Söhne, eine der traditionsreichsten Firmen der süddeutschen Textil-Industriegeschichte – saniert und weiterentwickelt. Entstehen soll ein modernes Quartier für Wohnen und Arbeiten. kd