Der 7. Oktober, 6.30 Uhr früh: Dieses Datum, für tausende Menschen in Israel ein Anfang des Schreckens und auch ein grausames Ende, werden auch sechs junge Leute aus Deutschland ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Sie waren nach Israel gekommen, um im Kinderheim Neve Hanna in Kyriat Gat, 25 Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, ein freiwilliges soziales Jahr zu leisten. Kaum sechs Wochen später riss sie der Raketenalarm aus dem Schlaf. Hatten sie Panik? „Eigentlich nicht, wir waren darauf gefasst, dass von Gaza her immer wieder Raketen fliegen, aber abgefangen werden“, berichtet Jona Rogge jetzt im Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen. Hier setzt die Gruppe, die zu ihrer eigenen Sicherheit heimgeschickt wurde, ihr soziales Jahr fort.
Neve Hanna – eine Oase mit Gärten und einem Zoo
Als Übergangslösung, so hoffen sie alle. Denn aus ihren Erzählungen ist herauszuhören, wie eng und emotional die Verbindung zu Neve Hanna und seinen kleinen und großen Menschen in kurzer Zeit geworden ist.
„Neve Hanna ist wie eine Oase, ein wunderschöner Ort“, schwärmt Ricky Wittig von dem weitläufigen Campus mit Wohnhäusern, Gärten, Sportplätzen, einem Zoo und einer professionellen Bäckerei. Der 19-jährige kommt wie der gleichaltrige Jona Rogge aus Hamburg, sogar aus demselben Gymnasium, und beide wurden vom selben Lehrer zu einer Bewerbung für dieses Kinderheim in Israel animiert. Ihn habe Israel sowieso mehr als alles andere interessiert, sagt Jona. Ricky ließ dafür den Plan für einen Auslandsaufenthalt in den USA fallen.
Am 15. August kamen die Freiwilligen in Israel an
„Eher zufällig und weil es finanziell gefördert wird“, hat sich Kim Pfeiffer aus Hanau, die Dritte in der Gesprächsrunde, dafür entschieden. Genau wie Leah Wurmstädt aus Lüneburg, Jana Baumann aus Aachen und Linus Piatschek aus Heilbronn. Sie haben unter 30 Bewerbern für sechs Plätze die Auswahlrunden für sich entschieden, sie haben die Vorbereitungsseminare absolviert und sie landeten glücklich am 15. August in Neve Hanna. „Schon der Empfang war so herzlich, wir fühlten uns sofort aufgenommen, man ist da und man gehört zur Neve-Familie“, hält das Trio mit seiner Begeisterung nicht hinter dem Berg. Neve Hanna, das Haus Hanna, ist nach seiner Gründerin Hanna Ullmann benannt. Sie war eine Berliner Jüdin, die schon dort in einem Kinderhaus als Erzieherin gearbeitet hatte, 1939 nach Palästina emigrieren konnte und sich in Haifa wiederum um Kinder kümmerte. Ihren Traum, Kindern, die aus irgendeinem Grund keine Familie mehr haben, familiäre Geborgenheit zu geben, konnte sie sich in Kiryat Gat erfüllen, wo einer ihrer Zöglinge aus Haifa mittlerweile Bürgermeister war und ihr ein Grundstück zur Verfügung stellte.
Gefühl der Sicherheit wich plötzlich der Angst
„Was dort gelungen ist, ist einmalig“, sind Jona, Ricky und Kim voller Bewunderung. Die israelischen und beduinischen Kinder und Jugendlichen im Alter von sechs bis 18 Jahren leben in Familienverbänden, gehen in die Schulen in Sderot und Aschkelon und bleiben der Einrichtung auch noch verbunden, wenn sie in der Armee und im Studium sind. Der Leiter Itzik Bohadana weise kaum einmal die Bitte um Aufnahme ab, „das Kind steht im Mittelpunkt“, sagt Ricky. Dann kam der 7. Oktober, plötzlich waren sie mitten im Krieg, wer hätte das ahnen sollen: „Wir mussten uns im Schutzraum einrichten“, erzählen sie. Als immer mehr Informationen die gnadenlose Grausamkeit der Terroristen offenbarten, sei das ursprüngliche Gefühl der Sicherheit der Angst gewichen. „Am schwierigsten war es, die Eltern daheim zu beruhigen“, sagen sie. Der Verein Neve Hanna habe den weiteren Aufenthalt der deutschen Gäste nicht verantworten wollen und ihre Abreise beschlossen. „Da wurden beim Abschied viele Tränen vergossen.“
Hebräisch wird trotzdem gelernt
Was nun? Das soziale Jahr abbrechen wollte keiner, „wir hingen in der Luft“. Da kam die langjährige Verbindung zwischen dem Neve Hanna und dem Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen zum Tragen. „Ich bekam einen Anruf aus Israel“, erzählt Arndt Montag, Leiter der Einrichtung der Stiftung Jugendhilfe aktiv: Ob die Jugendlichen zusammen bei ihm „überwintern“ könnten? „Wir haben es möglich gemacht“, sagt Montag. Die ehemalige Pfarrwohnung von St. Bernhard gleich gegenüber wurde zum Domizil für die Wohngemeinschaft, 120 Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen brauchen auch im Haus, das Theodor Rothschild 1913 als „Israelitisches Waisenheim“ gegründet hat, Zuwendung, Leah, Jana und Linus sind in der Wilhelmspflege in Stuttgart-Plieningen im Einsatz.
Der Kontakt zu Neve Hanna reißt nicht ab, Hebräisch wird digital und auf eigene Faust weiter gelernt. Wann geht es zurück? „Jetzt haben wir uns erst mal hier eingerichtet und wollen nicht ständig daran denken, sonst sitzt man ja auf gepackten Koffern“, wehrt Jona die Frage eher ab. In Neve Hanna, wissen sie, werde wieder der Alltag gelebt. Aber die Koffer bleiben noch leer.
Das Theodor-Rothschild-Haus
Geschichte Das Theodor-Rothschild-Haus ist seit seiner Erbauung 1913 ein Ort, an dem Kinder, Jugendliche und Familien aus schwierigen familiären Situationen aus Stadt und Kreis unterstützt werden.
Israelitisches Waisenheim Besonderen Stellenwert nehmen die Jahre 1913 bis 1938 ein, in denen das Theodor-Rothschild-Haus unter dem Namen „Jüdische Wilhelmspflege“ als israelitisches Waisenheim Esslinger Kindern ein sicheres Zuhause bot. red