Eine solche Außenwirkung ist der Stoff, aus dem Stadtmarketing-Alpträume sind. Statt auswärtigen Kunden die Kunde von einer sympathischen, sehenswerten und natürlich wirtschaftlich attraktiven Stadt unterzujubeln, klebt da dieser Aufkleber: zwei messerbewehrte Knaben, die sich in eindeutig krimineller Absicht an eindeutig genanntem Tatort an den Kragen gehen; in diesem Fall am Esslinger Bahnhof. Das Ganze hämisch verpackt
als Parodie des viel verspotteten, gerade deswegen erfolgreichen Landeswerbeslogans „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“ Auf dem Jux-Aufkleber mit den beiden Nachwuchs-Messerstechern und dem wenig spaßigen Realitätsbezug heißt es: „Nett hier. Aber waren Sie schon mal am Esslinger Bahnhof?“
Entdeckt hat ihn eine Passantin auf einer hässlichen Betonmauer in Duisburg. Im Hintergrund erhebt sich allerdings das städtische Theater, ein nobler klassizistischer Musentempel. Gleichwohl: Eher als mit hehrer Kultur verbindet man die Ruhrpott-Metropole mit Arbeitslosigkeit und einer Kriminalitätsrate, die mehr als doppelt so hoch liegt wie in Esslingen (9363 Straftaten pro 100 000 Einwohnern im Jahr 2022 gegenüber 4393). Ausgerechnet dort wird unser lauschiges Städtchen als Brennpunkt verunglimpft, wenn auch nur mit einer einzigen Problem-Ecke?
Satirische Übertreibung oder Undercover-Marketing?
Von wem der infame Bepper stammt und in welcher Auflage er verbreitet wird, ist unklar. In Umlauf befindet er sich mindestens seit Herbst vergangenen Jahres. Die beiden Aggro-Jungs sind etwas zu kindlich und zu adrett gezeichnet, abgesehen davon, dass sie sich die Klamotten aufgeschlitzt haben. Oder zielt auch das auf übertreibende satirische Anklage: In Esslingen stechen sich schon Kinder ab? Ganz unten steht die Postleitzahl des Esslinger Innenstadt inklusive Bahnhofsgebiet als Hashtag: #73728.
Eine besonders raffinierte Form von Undercover-Marketing? Esslingen, das gefährlich heiße Pflaster – was für ganz Coole? Stadt- als Gruseltourismus? So wie in den 1970er und 80er Jahren überwiegend europäische Besucher durch die New Yorker South Bronx gekarrt wurden: True Crime als Touri-Attraktion, eine Dosis Fort-Apache-Feeling im Junkie-Dschungel. Aber für Esslingen – eher unwahrscheinlich. Wohl doch kein Stadtmarketing-Traum. Nur ein Alptraum.
Unbehagen und Fluchtreflex
Wie der Bahnhof selbst für viele Esslingerinnen, Esslinger und Menschen aus dem Rest der Welt. Als „Brennpunkt“ sind er und sein Umfeld Stadtgespräch, man fürchtet dort Pöbeleien oder Schlimmeres, fühlt Unbehagen und Fluchtreflex. Zurecht?
Der Esslinger Sozialbürgermeister Yalcin Bayraktar sagt, was vonseiten der Stadtverwaltung schon oft gesagt wurde: dass es sich „laut Polizeistatistik um keinen Brennpunkt handelt. Die Sicherheitslage ist objektiv nicht gefährlicher als in ähnlich großen Städten.“ Heißt in Zahlen: im Bahnhofsumfeld laut Landespolizei im Jahr 2022 insgesamt 111 Straftaten, davon 38 Rohheitsdelikte, zu denen auch Körperverletzungen zählen, sechs Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 22 Diebstähle, knapp 20 Drogendelikte, neun Beleidigungen – jeweils mit deutlich abnehmender Tendenz gegenüber den Vorjahren. Für das Bahnhofsgelände selbst ist die Bundespolizei zuständig, die 63 Straftaten für 2022 meldet, darunter fünf Körperverletzungen, 15 Diebstähle, einen Raub, zwölf Sachbeschädigungen, 16 Drogendelikte, kein Sexualdelikt und auch hier eher zurückgehende Zahlen. Weit mehr als die Hälfte der Gewaltdelikte am Bahnhof wird tagsüber begangen. Nichts bekannt ist der Landespolizei von Banden, die dort ihr Unwesen treiben.
Aber trotz Rückgang immer noch fast jeden zweiten Tag eine Straftat – und das subjektive Sicherheitsempfinden tickt eh anders als die rechnerische Bilanz. Bayraktar weiß, dass dafür viele Faktoren ausschlaggebend sind. Nicht jede Aggression, nicht jeder lautstarke Streit führt gleich zu einer Anzeige, prägt aber die Wahrnehmung des Ortes. Verschmutzung, triste bauliche Anmutung, Personengruppen mit einem als abweichend oder bedrohlich empfundenen Verhalten tragen ihren Teil zur Unbehaglichkeit bei. Die hohe Passantenfrequenz mache zudem jede Straftat, jede Ordnungsstörung sofort öffentlich, erklärt der Polizeisprecher Johannes Pfeffer.
Die Stadt hat 2021 zunächst mit einem Alkoholverbot reagiert, das laut Bayraktar Wirkung zeigt. Verstöße würden geahndet, im vergangenen Jahr 309 mal. Zusätzliche Wirkung erhofft sich die Stadt von der Kombination mit dem geplanten Treff für die Trinkerszene, der den Bahnhofsbereich entlasten soll. Der in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen entwickelte Katalog von über 70 weiteren Maßnahmen werde kontinuierlich umgesetzt. Bislang aber firmiert der Esslinger Bahnhof in unschöner Regelmäßigkeit in den Blaulichtspalten: Jüngst wurden zwei Reisende mit Faustschlägen traktiert, eine Zwölfjährige und weitere Mädchen wurden mitten am Tag auf dem Bahnsteig von einem Mann belästigt.
Die Kampagne „Nett hier. Aber . . .“
Der Spruch „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“ wurde 2000 im Rahmen der ersten Werbekampagne des Landes „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ kreiert. Ursprünglich tourte er auf Lokomotiven durch die Republik. So war er etwa in der spektakulären Landschaft des Chiemgaus zu lesen – wo die Botschaft auf der E-Lok nachgerade groteske Züge annahm. Doch hat die Werbeparole modellhaft vorgeführt, wie sich die zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn hin- und hergeworfene schwäbische Mentalität Luft macht in provokativer Großkotzigkeit. Ein Riesenerfolg, dass sich ganz Deutschland das Maul darüber zerriss.
Die Aufkleber mit dem „Nett hier“-Spruch überlebten die von „The Länd“ abgelöste Kampagne. Laut SWR sind die Bepper unter anderem auf dem New Yorker Times Square, dem Mount Everest und sogar einem Schiffswrack auf dem Meeresgrund zu finden. Kommentar dazu im Internet: „So tief ist Baden-Württemberg gesunken!“