Rund ein Drittel aller Frauen wurden schon einmal Opfer von Beziehungsgewalt. Aber auch Männer sind in Partnerschaften Gewalt ausgesetzt. Bundesweit ist die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie
gestiegen. Im Landkreis Esslingen ist dieser Trend nicht zu beobachten. Wie bei allen Straftaten gibt es jedoch auch bei Partnergewalt eine Dunkelziffer, und jeder Fall von häuslicher Gewalt ist ein Fall zu viel.
„Die Corona-Zeit war schwierig, weil viele Familienmitglieder immer zu Hause waren, oft auf engem Raum. In bereits belasteten Familien kann sich in einer solchen Situation vieles zuspitzen“, weiß Saskia Wiesner, hauptamtliche Mitarbeiterin des Kirchheimer Vereins „Frauen helfen Frauen“, der Frauen betreut, begleitet und unterstützt, die in von Gewalt geprägten Beziehungen leben. Trotzdem sei die Zahl der Hilfesuchenden in der Beratungsstelle des Vereins, der auch Träger des Frauenhauses Kirchheim ist, nicht auffallend angestiegen. Einen deutlichen Anstieg verzeichnen die Mitarbeiterinnen allerdings bei der Zahl der Beratungen nach einem Wohnungsverweis oder einem Polizeieinsatz: von 39 im Jahr 2020 auf 47 Fälle im Jahr 2021.
Die erste Kontaktaufnahme zum Verein erfolgt durch die Frauen selbst, durch besorgte Angehörige, durch andere Einrichtungen oder durch die Polizei: Die darf – mit Einverständnis der Betroffenen – nach einem Einsatz in einem Fall von häuslicher Gewalt die Daten an den Verein übermitteln. Die Beratung ist kostenlos, vertraulich, individuell und parteilich: Es stehen immer die Interessen der Frauen im Mittelpunkt. „Zuerst lassen wir uns berichten, was vorgefallen ist. Dann fragen wir: Wie können wir weiterhelfen? Was können wir gemeinsam klären?“, erläutert Saskia Wiesner das Prozedere.
Dabei begegnet dem Team häusliche Gewalt gegen Frauen in unterschiedlicher Form, wie Wiesner berichtet: „Das ist zum einen körperliche Gewalt. Dann ökonomische Gewalt, wenn Frauen kein eigenes Konto haben, nicht über Geld verfügen dürfen, nicht arbeiten dürfen oder zwar arbeiten dürfen, aber den Lohn zu Hause abgeben müssen. Der Bereich der psychischen Gewalt ist eigentlich immer mit dabei: Druck, Kontrolle, Einschüchterung, Einschränkung, die Frauen klein machen. Es gibt soziale Gewalt: Isolation, Kontakte zu anderen werden verboten. Das kann bis hin zum Einsperren gehen. Und ein neues Thema ist digitale Gewalt, wenn das Handy kontrolliert wird, wenn die Frau über das Handy überwacht wird, bis hin zum Terrorisieren übers Handy nach einer Trennung.“
In der Beratung haben es die Mitarbeiterinnen mit Frauen aus allen Einkommens-, Bildungs- und Altersschichten, Nationalitäten und Religionen zu tun. „Sehr erschreckend ist, dass Frauen mit Beeinträchtigung doppelt so häufig Opfer von häuslicher Gewalt werden wie nicht behinderte Frauen“, sagt Wiesner.
Viele betroffene Frauen berichten, dass der Partner zwei Gesichter zeigt: „Es gibt auch schöne Momente. Das ist es auch, was es vielen Frauen so schwer macht, sich nach einem Gewaltvorfall von ihrem Partner zu trennen“, vermutet Saskia Wiesner. „Und immer wieder beobachten wir eine Gewaltspirale: Es läuft eine Zeitlang gut, dann kommt es wieder zu einer Eskalation, es folgt die Entschuldigung. Aber die Gewalt kommt immer öfter, schlimmer oder stärker vor.“
„Die meisten Frauen brauchen mehrere Anläufe, um sich zu trennen. Für uns ist es wichtig, zu vermitteln, dass sich die Frauen immer wieder bei uns melden dürfen. Leichter ist es, wenn das Umfeld der Betroffenen den Frauen glaubt und Hilfe anbietet“, weiß Wiesner. Wenn Frauen zum Schutz im Kirchheimer Frauenhaus aufgenommen werden, reagieren sie sehr unterschiedlich: „Manche kapseln sich ab. Manche durchleben eine depressive Phase. Manche blühen auf. Viele Frauen fühlen sich schuldig. Und viele haben Angst davor, wie es weitergeht. Aber jede Frau darf bei uns so sein, wie sie ist“, betont Wiesner. Wichtig sei deshalb eine Phase der Stabilisierung: „Die Frauen und ihre Kinder dürfen bei uns erst einmal zur Ruhe kommen.“
Das Schweigen endlich brechen
Seit sechs Jahren berät der Sozialarbeiter Dominique Jend in der Fachberatungsstelle Gewaltprävention in Esslingen Männer und Frauen, die Konflikte und Streitigkeiten in ihrer Partnerschaft erleben, Grenzen verletzen oder gewalttätig geworden sind. Er ist für den ganzen Landkreis zuständig und betreut rund 100 Klienten pro Jahr. Rund 20 Prozent seiner Klienten wollen aus eigener Motivation ihr Verhalten ändern und melden sich selbst in der Beratungsstelle. Gut 80 Prozent werden von Institutionen wie der Justiz oder von den Sozialen Diensten vermittelt.
Der Sozialarbeiter lobt die Kooperation mit der Polizei: „Im Landkreis verfolgen wir einen proaktiven Ansatz: Wenn die Polizei in Sachen häuslicher Gewalt gerufen wird, kann sie – je nach Situation vor Ort – die Betroffenen direkt fragen, ob sie ihre Daten an eine Opfer-Beratungsstelle weitergeben darf.“
Die Beratung, die Männer und Frauen dabei unterstützen soll ein gewaltfreies Leben zu führen, ist kostenfrei, die Fachkräfte unterliegen der gesetzlichen Schweigepflicht. Die Ziele für die Arbeit mit gewaltbereiten Männern und Frauen sind klar formuliert: „Lernen, Streitigkeiten und Konflikte konstruktiv zu führen. Handlungsalternativen erarbeiten. Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen. Sensibilisierung.“ Im persönlichen Gespräch unter vier Augen hilft Dominique Jend den Beschuldigten, sich über ihr Verhalten klarer zu werden und Veränderungsprozesse einzuleiten. Und er begleitet sie ein Stück auf diesem Weg. Bis zu zehn einstündige Beratungen sind pro Fall vorgesehen.
Die Beratungsstelle bietet auch ein Gewalt-Sensibilisierungs-Training an, das 16 dreistündige Einheiten umfasst. „In einer Gruppe von bis zu acht Männern ermöglichen wir ihnen, sich über ihr Streit- und Gewaltverhalten klar zu werden. Ziel ist es, individuelle nachhaltige Konfliktlösungsstrategien zu erarbeiten“, heißt es auf der Webseite der Beratungsstelle, die zur Sozialberatung Stuttgart gehört. Ganz wichtig ist Dominique Jend, dass im Hinblick auf häusliche Gewalt das Schweigen gebrochen wird: „Die Gewalt dauert oft jahrelang. Das Verschweigen hat viel mit Scham zu tun: ‚Das kann ich doch niemandem erzählen.‘ Aber in dem Moment, in dem jemand die Polizei ruft, passiert etwas. Dann merken die Betroffenen: ‚Ich kann auch etwas ändern.‘“ Gaby Weiß
Hilfe bei häuslicher Gewalt
In akuten Bedrohungssituationen können Betroffene den Polizei-Notruf 110 rufen. Auch der ärztliche Notdienst 112 bietet Hilfe.
Das Hilfetelefon für Frauen ist unter der Nummer 0 80 00/11 60 16 zu erreichen. „Gewalt gegen Frauen“ unterstützt vertraulich und kostenlos 365 Tage im Jahr rund um die Uhr und in mehreren Sprachen.
Das Hilfetelefon für Männer ist telefonisch unter der Nummer 0 80 00/1 23 99 00 erreichbar. Dort werden von Gewalt betroffene Männer Montag bis Donnerstag von 9 bis 13 Uhr sowie von 16 bis 20 Uhr und Freitag von 9 bis 15 Uhr vertraulich und kostenlos unterstützt.
Beratung für Frauen gibt es bei „Frauen helfen Frauen Kirchheim“, erreichbar unter 0 70 21 /4 65 53, bei „Frauen helfen Frauen Esslingen“ unter 07 11/35 72 12 und bei „Frauen helfen Frauen Filder“ unter der Nummer 07 11/7 94 94 14.
Beratung für gewaltausübende Männer und Frauen gibt es bei der Gewaltprävention Kreis Esslingen der Sozialberatung Stuttgart, erreichbar unter 07 11/21 84 09 66 oder per Mail an gewaltpraevention@sozialberatung-stuttgart.de. gw