Jost Cramer ist ein angenehmer Gesprächspartner. Der Senior strahlt eine Souveränität und innere Ruhe aus, die vom ersten Augenblick an fasziniert. Man spürt: Er ist ein Mensch, der in sich selbst ruht und den so schnell nichts aus der Fassung bringt. Vor wenigen Tagen konnte der Lichtenwalder seinen 90. Geburtstag feiern. „Es war ein schöner Tag. Unser Bürgermeister Ferdinand Rentschler kam mit einem großen Geschenkkorb vorbei, und der Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat mit einer Urkunde gratuliert“, erzählt der Jubilar.
Aus seinem Umkreis im Dorf und weit darüber hinaus erreichten ihn zahlreiche Glückwünsche. Dies verwundert nicht, denn im regen Kulturleben Lichtenwalds sind Cramer und seine Frau Gunilde, die einst als Klavierprofessorin an der Stuttgarter Musikhochschule wirkte, fest verankert. Beide haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Schurwaldgemeinde zu einem „Kulturdorf“ entwickelt hat.
„Als wir 1978 nach Lichtenwald gezogen sind, war hier kulturell nicht viel geboten“, erinnert sich Jost Cramer. Lotte Hermann – damals Leiterin der Volkshochschule – motivierte die Cramers, das künstlerische Leben in der Gemeinde zu aktivieren. „Wir haben Konzerte gegeben, literarisch-musikalische Abende gestaltet, und auch die bildende Kunst nahm einen immer breiteren Raum ein“, sagt Cramer.
Es erwies sich als Glücksfall, dass in Lichtenwald einige bedeutende Musiker, Künstler und Schauspieler leben. Im Lauf der Zeit entwickelte sich ein Netzwerk, das heute die Kräfte in der von der Gemeinde geförderten Gemeinschaft „ART Lichtenwald“ bündelt. „Als das neue Bürgerzentrum fertiggebaut war, habe ich zusammen mit dem im Ort wohnenden Pianisten Martin Pillwein einen Konzertflügel ausgesucht, berichtet Cramer. Eine gute Anschaffung, denn das Instrument ist im Dauereinsatz: Bei Konzerten, Liederabenden und Chorbegleitungen.
Zufrieden blickt Jost Cramer auf ein erfülltes Leben zurück. Doch nicht immer lief alles glatt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs musste Jost, dessen Vater an der Ostfront gefallen ist, unter abenteuerlichen Umständen mit drei seiner Geschwister aus dem heute in Polen gelegenen Lodz fliehen. „Wir hatten großes Glück. Unser Fahrzeug kam heil zwischen den heftigen Kämpfen an der Frontlinie durch“, erinnert sich Cramer. Nach einigen Umwegen führte der Weg zur Großmutter nach Ludwigsburg. Schon während der Schulzeit fiel Jost durch seine außerordentliche Musikalität auf: Er hatte eine schöne Stimme, und auch sein Tastenspiel begeisterte.
Nach dem Abitur begann er mit dem Klavierstudium an der Stuttgarter Musikhochschule bei Professor Jürgen Uhde. „Das Beste am Studium war, dass ich dort meine Frau Gunilde kennengelernt habe“, sagt Jost Cramer mit dem ihm eigenen feinen Humor und schmunzelt.
Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. „Als ich Jost als junge Musikstudentin erstmals in einem Vorspiel der Klavierklasse von Uhde gehört habe, war ich hin und weg. Er war der pianistische Star und faszinierte mich total“, blickt Gunilde Cramer zurück. Der langjährigen intensiven Beziehung der beiden Musiker entstammen drei Kinder. Der ganze Stolz der Cramers ist ihre Enkeltochter, die einst einige Zeit in ihrem Haushalt gelebt hat.
Neben dem Klavierspiel interessierte sich Jost Cramer sehr für Geschichte und Politik. Seine Leidenschaft brachte ihn zum Studium dieser Fächer an den Universitäten in Tübingen und Stuttgart und schließlich in den Schuldienst. Zuletzt unterrichtete er als Gymnasialprofessor am Gymnasium in Ebersbach, zudem war er Fachberater des Oberschulamts. „Das Unterrichten hat mir großen Spaß gemacht, und ich empfand es als Auszeichnung, dass mich das Oberschulamt nach der Wende nach Ostdeutschland entsandt hat“. Dort vermittelte Jost Cramer Geschichtslehrern der ehemaligen DDR eine objektivere Sicht auf die historischen Zusammenhänge der neueren deutschen Geschichte.
Dem Klavier blieb Jost Cramer jedoch stets treu: In unzähligen Konzerten hat er solistisch und im Klavierduo mit seiner Frau die Zuhörer begeistert. „Unser Favorit ist der italienische Sonatenmeister Domenico Scarlatti, aber auch die großen Klavierwerke von Bach über Mozart bis hin zu Felix Mendelssohn Bartholdy spielen wir mit Begeisterung“, sagen Gunilde und Jost Cramer.
Und wie hat sich der 90-Jährige seine Fitness bis ins hohe Alter bewahrt? Körperlich haben ihn Bergwanderungen in Form gehalten. Besonders wichtig ist Jost Cramer jedoch das mentale Training: „Ich habe stets intensiv Klavier geübt, lese sehr viel und verfolge interessiert, was in der Welt passiert“.