Eltern, Geschwister, Freunde, – all das musste die 17-jährige Kamilla zurücklassen. Von einem Tag auf den anderen war sie auf der Flucht in ein für sie völlig fremdes Land. Kamilla ist eine von vielen Jugendlichen im Kreis Esslingen, die ohne Begleitung der Eltern aus der Ukraine geflüchtet sind. Offiziell sind es bis heute 43. In Wahrheit ist die Zahl wohl höher.
„Ein Großteil der unbegleiteten Geflüchteten sind Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren“, sagt Andrea Wangner, Pressesprecherin des Landratsamtes Esslingen. Das jüngste Kind, das ohne Eltern im Kreis angekommen ist, ist drei Jahre alt und wurde von Verwandten begleitet. In der Regel reisen die Minderjährigen mit Verwandten oder Bekannten. Doch nicht immer können die jungen Menschen nach der Flucht bei ihren Begleitern bleiben. So auch im Fall von Kamilla.
Anfang März verlässt sie ihre Heimatstadt Odessa gemeinsam mit einer Arbeitskollegin ihres Bruders. „Männer durften nicht ausreisen, und meine Mutter wollte meinen Vater und meine Brüder nicht verlassen“, erinnert sie sich. Doch die Eltern möchten, dass zumindest ihre Tochter in Sicherheit ist. „Der Abschied war nicht so schlimm, weil ich dachte, dass ich in spätestens einem Monat wieder bei meiner Familie sein werde“, sagt Kamilla.
Mit dem Bus geht es über Bulgarien nach Deutschland. In München kommt sie ein paar Wochen bei Bekannten unter, muss dann aber weiter nach Dettingen. „Hier lebt ein Freund meines Vaters“, sagt Kamilla. Bleiben kann sie bei dessen Familie aber auch nicht. „In der Wohnung ist einfach nicht genügend Platz“, sagt sie. Der Freund der Familie wendet sich an den AK Asyl in Dettingen. Hier engagieren sich Karin und Bernd Müller mit ihrer Tochter Samantha schon seit Jahren. In dem Zweifamilienhaus, in dem das Ehepaar lebt, ist genügend Platz, die drei eigenen Kinder sind bereits ausgezogen.
„Wir hatten schon länger mit dem Gedanken gespielt, jemanden aus der Ukraine aufzunehmen. Vielleicht eine Mutter mit ihrem Kind. Als wir gehört haben, dass eine Unterkunft benötigt wird, haben wir nicht lange überlegt“, sagt Bernd Müller. „Erst später kam der Gedanke auf, dass es mit einem Teenager etwas anders laufen könnte“, ergänzt er lachend.
Die Aufnahme eines jungen Menschen, der alleine in ein fremdes Land kommt, ist mit besonderen Herausforderungen verbunden, sagt Andrea Wangner: „Viele Kinder zeigen in den ersten Wochen und Monaten nach der Flucht Symptome einer akuten Belastungsreaktion. Einige denken fortwährend an Sequenzen erlebter, schlimmer Erfahrungen und können diese kaum ausblenden.“
Die Stimmung bei den Müllers daheim ist ausgelassen, es wird viel gelacht, jeden Abend wird gemeinsam gegessen. Mittlerweile ist man zu einer kleinen Familie geworden. „Aber auch Kamilla hat schlechte Tage“, sagt Bernd Müller. Dann kann sie die Angst um die Familie nicht ausblenden.
Mit englisch zurechtgefunden
In Deutschland findet sich die 17-Jährige schnell zurecht. Wie so viele junge Menschen aus der Ukraine beherrscht sie die englische Sprache fließend. „Es war hier für mich nicht so schwierig wie gedacht. Die meisten sprechen ja Englisch“, sagt sie.
Über die Situation in Kamillas Heimat wird daheim bei den Müllers nicht viel gesprochen. Ein geregelter Tagesablauf soll helfen, nicht permanent an den Krieg denken zu müssen. Jeden Tag hat Kamilla Online-Vorlesungen. An der Uni in Odessa studiert sie Sprachen. Anders als in Deutschland kann man in der Ukraine schon sehr viel früher mit dem Studium beginnen. Dreimal die Woche geht sie außerdem zum Deutschkurs in der Volkshochschule. Ihr Ziel ist das Sprachniveau C1. „Dann kann ich nächstes Jahr vielleicht hier studieren.“ Ob sie glaubt, dann immer noch in Deutschland zu sein? „Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, wie lange dieser Krieg noch dauert.“
In der Freizeit geht sie ins Fitnessstudio oder fährt mit dem Fahrrad, das sie vom AK Asyl bekommen hat. „Ich komme aus einer großen Stadt. Da sieht man keine Bäume und man hört auch keine Vögel singen“, scherzt die 17-Jährige. Eine besondere Herausforderung bei der Betreuung von jugendlichen Geflüchteten stellt der Umgang mit sozialen Medien dar. „Die Sorge um Angehörige und Freunde, die in der Heimat zurückgeblieben sind, wirkt weiter und führt dazu, dass fast pausenlos Medienberichte verfolgt oder soziale Netzwerke genutzt werden. Dies trägt dazu bei, dass die Konfrontation mit nicht aushaltbaren Bildern weiter gelebt wird und die akute Belastung anhält.“
Der Fernseher bei Familie Müller bleibt die meiste Zeit aus. Kamilla selbst möchte keine Nachrichten sehen. Zu groß ist die Angst davor, dass sich die Situation in Odessa verschlimmert. Dass ihr Vater und die Brüder vielleicht bald selbst kämpfen müssen oder das eigene Haus beschossen wird.
In Schulungen des Pflegekinderdienstes des Landkreises Esslingen werden auch die Pflegeeltern auf eine solche psychische Ausnahmesituation vorbereitet. „Die psychische Überforderung durch langanhaltenden extremen Stress und körperlichen Reaktionen höchster Anspannung zeigen sich häufig zunächst in somatischen Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Appetitmangel“, sagt Wangner, „Dazu kommen nicht selten unerklärbare, extreme Stimmungsschwankungen und Überreaktionen im Verhalten anderen Menschen gegenüber.“
Eine wichtige Rolle spiele der Kontakt zu den Eltern in der Heimat. Kamilla spricht jeden Tag mit ihrer Mutter. „Wir versuchen dann nicht über den Krieg zu reden“ sagt die 17-Jährige. „Es sei denn, es passiert etwas“. So wie neulich erst. „Da waren nachts Schüsse zu hören. Natürlich sprechen wir dann darüber.“
Weitere Gastfamilien gesucht
Der Landkreis ist derzeit noch auf der Suche nach weiteren Personen, die sich vorstellen können, minderjährige Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufzunehmen. Bisher haben sich 40 Paare, Familien oder Alleinstehende gemeldet. „Hiervon befinden sich derzeit acht im Überprüfungs- und Qualifizierungsprozess“, erklärt Andrea Wangner, die Sprecherin des Landratsamtes.
Potenzielle Pflegefamilien werden im Rahmen eines Hausbesuchs durch den Pflegekinderdienst genauestens überprüft, bevor sie einen jungen Menschen in Obhut nehmen dürfen. „Wir mussten ein polizeiliches Führungszeugnis und einen Gesundheitsnachweis vorlegen“, erinnert sich Gastmutter Karin Müller. Auch mit den Jugendlichen und Kindern selbst wird gesprochen. „Sie wollten meine komplette Familiengeschichte hören“, sagt die geflüchtete Kamilla.
Auch nach der Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen erfolgt eine intensive Begleitung der Gastfamilie durch den Pflegekinderdienst. „Es ist auch für uns eine Erleichterung zu wissen, dass es Anlaufstellen gibt, an die wir uns wenden können“, sagt der Dettinger Gastvater Bernd Müller. Denn je nachdem, wie der Krieg in der Ukraine verlaufen wird und wie lange er dauert, dürften sich auch die Herausforderungen für die Gastfamilien verändern.
Wer sich vorstellen kann, einen jungen Menschen aus der Ukraine bei sich aufzunehmen, kann sich per E-Mail an pflegekinderdienst@LRA-ES.de oder unter Telefon 07 11/3 90 24 29 92. mk