Sexualisierte Gewalt – sowohl verbal, physisch als auch in Kombination – zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Die Betroffenen reichen vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter. Dasselbe Bild zeigt sich bei den „Tatgeneigten“ – also jenen Menschen, die entsprechende Gewalt-Phantasien haben und gefährdet sind, diese umzusetzen – sowie bei den Beschuldigten.
Die psychologische Fachberatungsstelle Kompass in Kirchheim ist Anlaufstelle für beide Seiten. Ebenso wie für deren Angehörige, das sonstige nähere Umfeld sowie für Fachkräfte. Dass bei Kompass auch die Gruppe der Tatgeneigten und Beschuldigten zur Beratung kommen kann, ist einzigartig im Landkreis Esslingen, erfährt man von Katja Englert, der Leiterin der Fachberatungsstelle.
„Es ist der beste Opferschutz, wenn man mit ihnen möglichst präventiv arbeiten oder aber im Falle der ausgeübten Gewalt das Handeln gemeinsam aufarbeiten kann“, erklärt Englert. Die Erfahrung zeige, dass zwischen 70 und 80 Prozent selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben und oft viele Jahre später die eigene Demütigung kompensieren, indem sie die Machtposition einnehmen. „Sie müssen lernen, Empathie zu entwickeln. Die Scham muss die Seiten wechseln – von den Betroffenen hin zu den Beschuldigten“, betont Katja Englert. Eines der jüngsten Kinder der im Rahmen der Fachkraftberatung betreuten übergriffigen Kinder, sei erst sieben Jahre alt: „Er hat die an Gleichaltrigen ausgeübten sexualisierten Übergriffe als Mutprobe dargestellt. Die Bandbreite ist hier unheimlich groß. Das fängt bereits im Kindergarten an.“ Häufig reinszenieren Kinder laut Katja Englert dabei selbst Erlebtes.
Erwachsene verarbeiten oft spät
„Die bisher älteste Betroffene, die zu uns kam, war 76 Jahre alt“, ergänzt Englert. Bei Erwachsenen liege neben aktuellen Erfahrungen sexualisierter Gewalt im privaten Umfeld die Gewalterfahrung häufig in der Kindheit, sie sprechen aber erst spät darüber. Das hänge auch damit zusammen, dass sexualisierte Gewalt früher noch viel mehr als heute ein Tabuthema war. „Kinder und Jugendliche wenden sich in der Regel erstmal an Gleichaltrige. Daher ist die frühzeitige Präventionsarbeit in den Kitas und Schulen so wichtig. Dazu zählt auch die Sensibilisierung der Kinder und Jugendlichen selbst, sodass sie lernen, ab wann es um eine Grenzüberschreitung geht, die sie selbst oder ihr Umfeld betrifft“, erklärt die Leiterin der Kirchheimer Fachberatungsstelle. Ein großes Feld sei besonders bei der jüngeren Altersgruppe die sexualisierte Gewalt auf digitaler Ebene: „Ein Beispiel sind Nacktbilder, die eingefordert oder mit deren Veröffentlichung die Betroffenen erpresst werden“, so Englert, „nahezu 100 Prozent aller Zehnjährigen haben heute ein internetfähiges Handy, weniger als zehn Prozent allerdings ausgestattet mit entsprechenden Schutzmechanismen.“ Sehr belastend für die Betroffenen und die Angehörigen sei es auch, wenn sich die Gewalttat zwischen Geschwisterkindern abspiele: „Die Auswirkungen sind hier sehr schlimm, denn die Gewalt ausübende Person ist immer da, das geht teils über Jahre. Eltern stehen dann zudem zwischen ihren Kindern, die gleichermaßen Opfer und Täter sind. Daran zerbrechen Familien oft.“
Vor rund 30 Jahren ist Kompass als eigenständiger Trägerverein aus Pro Familia heraus entstanden. Die Fachberatungsstelle wird über den Landkreis Esslingen finanziert, die Beratungsangebote sind kostenlos. Der Bedarf sei kontinuierlich gestiegen, berichtet Katja Englert. Im vergangenen Jahr haben sie und ihre drei Kolleginnen in der psychologischen und psychotherapeutischen Beratung rund 260 Fälle begleitet, darunter Betroffene, als auch Beschuldigte. Das ist eine Verdopplung innerhalb der letzten 23 Jahre. Der Großteil der Betroffenen ist dabei unter 21 Jahre alt. An die Beratung bei Kompass schließe sich häufig eine weiterführende Therapie an, oft sei das aber mit langen Wartezeiten verbunden, die es zu überbrücken gelte.
Die Dunkelziffer ist hoch
„In den vergangenen 30 Jahren ist das Thema sexualisierte Gewalt, die Sensibilisierung dafür und vor allem auch die Präventionsarbeit immer mehr in den Fokus gerückt“, sagt Katja Englert. In dem Zusammenhang hätten sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Stärkung des Kinderschutzes verändert. Die Dunkelziffer sei bundesweit allerdings nach wie vor sehr hoch: „Studien belegen, dass im Schnitt in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind und jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland in der Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt hat.“

Die psychologische Fachberatungsstelle Kompass in Kirchheim
Das Einzugsgebiet umfasst Kirchheim und die Gemeinden Dettingen, Beuren, Neuffen, Kohlberg, Erkenbrechtsweiler, Bissingen, Neidlingen und Weilheim sowie das Lenninger Tal; Nürtingen mit den Umlandgemeinden Wolfschlugen, Aichtal, Schlaitdorf, Altdorf, Neckartenzlingen, Bempflingen und Großbettlingen, Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen.
Der Vorstandsvorsitz des Trägervereins ist neu zu besetzen. Aktuell hat den Posten Friederike Gerstenberg, Professorin für Psychologie an der Hochschule Esslingen. Zum Vorstand zählen zudem Silvia Weidenbacher und Christoph Probst.
Gesucht wird eine neue Vorstandsvorsitzende, vorzugsweise mit psychologischer oder sozialpädagogischer Erfahrung in der Beratung und der Offenheit, sich mit dem Themenkomplex der sexualisierten Gewalt zu beschäftigen.
Der gemeinnützige Trägerverein ist seit Oktober 1993 freier Träger der Jugendhilfe und anerkannter Träger der außerschulischen Jugendbildung. Kompass ist Mitglied in „Der Paritätischen Baden-Württemberg“ und der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung. Seit 1994 besteht eine Kooperationsvereinbarung von Kompass und dem Landkreis Esslingen. eis
Weitere Infos gibt es im Internet unter www.kompass-kirchheim.de