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Kinderärzte gehen baden

Protest Mit einem außergewöhnlichen Badegang wollen Kinderärzte und Pflegekräfte darauf hinweisen, dass die Spezialkliniken aus allen Nähten platzen. Im Waschzuber auf dem Esslinger Mittelaltermarkt beweisen sie Galgenhumor. Von Dominic Berner

Drei, zwo, eins – und die Kindermedizin geht baden. Die Besucher auf dem Esslinger Mittelaltermarkt sind so einige merkwürdige Anblicke gewohnt, doch was sie an diesem späten Nachmittag zwischen Knappen, Burgfrauen und Gauklern zu sehen bekommen, tanzt in jedem Fall aus der Reihe: Fünf Mediziner aus der Region Stuttgart stehen bis zu den Knien im 38 Grad warmen Wasser eines großen Badezubers auf dem Hafenmarkt. Sie tragen weiße Arztkittel, haben Schwimm- und Taucherbrillen über den Kopf gestreift. Aus einem Lautsprecher klingt Celine Dions Song „My Heart will go on“, den man aus dem Film „Titanic“ kennt. Dann zählt ein Arzt herunter: „Drei, zwo, eins . . .“ Das Quintett setzt sich.

Der Arzt ist Christian von Schnakenburg, Leiter der Kinder- und Jugendstation am Esslinger Klinikum. Die Aktion war seine Idee. Doch so spaßig sie auch aussieht, es hat einen ernsten Hintergrund: „Es soll eine Demonstration sein und Emotionen wecken“, erklärt der Arzt. Seine Mitstreiter und er wollen mit der Aktion ein Problem in die Öffentlichkeit tragen, das die Kleinsten und deren Eltern betrifft: Die Kinderkliniken platzen aus allen Nähten. „Wir haben viel zu wenige Betten und viel zu wenige Pflegekräfte“, sagt von Schnakenburg.

Und das ist nicht nur ein Esslinger Problem. Gespannt verfolgt eine Handvoll Passanten, wie sich die vier Männer und eine Frau gemeinsam in den „Zuber der Wölfe“ setzen. Der mittelalterliche, hölzerne Whirlpool ist ein Klassiker des Mittelaltermarktes und gehört vor Weihnachten auf den Hafenmarkt wie Pflegekräfte in ein Krankenhaus. Nun sitzt das Quintett bis zum Hals im Wasser – ein Sinnbild für die extreme Lage der Kliniken. In der Wanne sitzen mit von Schnakenburg die Kinderkrankenschwester Melanie Röhrle, ebenfalls vom Klinikum Esslingen, und der Chefarzt der Kinderklinik in Reutlingen, Peter Freisinger. Auch Kollegen vom Stuttgarter Olgahospital sind dabei: der Ärztliche Direktor Axel Enninger und der leitende Oberarzt Söhnke Dammann.

Von seinen Assistenten hatte von Schnakenburg erfahren, dass man auf dem Mittelaltermarkt in einen warmen Wasserbottich steigen kann. „Da dachte ich mir: In der aktuellen Situation, in der die Kindermedizin baden geht, könnten wir uns den doch mieten.“ Unterstützung fand er bei den benachbarten Kinderkliniken, die derzeit enger zusammenarbeiten müssen denn je. Aktueller Auslöser ist eine Welle an Atemwegsinfekten, die die Kliniken seit Wochen an ihr Limit bringt. Hinzu komme der Personalmangel, erklärt Freisinger: „Es ist ein Problem, mit dem wir schon lange kämpfen und noch lange kämpfen werden.“

Die Einrichtungen müssen sich gegenseitig aushelfen – sogar bundesweit. In Deutschlands größter Kinderklinik, dem Olgäle in Stuttgart, seien kürzlich Anfragen aus Frankfurt und München eingegangen, ob sie Kinder aufnehmen könne, berichtet Enninger. Auch das Esslinger Klinikum erhält Hilferufe, teilweise aus Aalen – und muss auch eigene Patienten auslagern. „Grundsätzlich sind wir Kinderärzte es gewohnt, mit solchen Wellen umzugehen“, meint Enninger. Dies sei das normale Geschäft im Winter. „Aber jetzt trifft die Infektionswelle auf den Personalmangel, der sich in den letzten Jahren massiv aufgebaut hat – und jetzt nicht zu kompensieren ist.“

Zwar haben das grassierende RS-Virus und weitere Atemwegsinfekte entscheidend zu dieser Ausnahmesituation beigetragen, das Hauptproblem ist aber ein anderes. „Wir hätten sogar die Betten, um die Kinder unterzubringen“, betont Freisinger. Es gebe aber schlicht zu wenige Pflegekräfte, um die jungen Patientinnen und Patienten zu versorgen. „Das kommt in einer solchen Krisensituation ganz bitter zum Tragen“, konstatiert der Arzt aus Reutlingen.

Auch im Stuttgarter Olgahospital ist die Lage extrem angespannt. „Vor zwei Stunden hatten wir noch vier belegbare Betten“, sagt der Direktor Enninger um kurz nach 16 Uhr. „Das reicht vorne und hinten nicht. Üblicherweise brauchen wir vom Nachmittag bis zum nächsten Morgen ungefähr 15 Betten.“

Die Mediziner hoffen, mit ihrer Badeaktion die Aufmerksamkeit der Besucher zu erlangen. „Ich finde die Idee ganz toll“, sagt Freisinger. Sie haben ein Banner aufgehängt und halten Schilder hoch, auf denen „Kein Spaß! Galgenhumor“ steht; daneben ist ein gezeichneter Galgen zu sehen. Die Kulisse, der Mittelaltermarkt, wurde nicht zufällig ausgewählt: Sie sei der „dramatische Effekt“ der Demonstration, meint von Schnakenburg. „Im Mittelalter gab es keine Kindermedizin, entsprechend hoch war die Säuglingssterblichkeit. Dahin wollen wir natürlich nicht zurück, aber es bedarf gesellschaftlicher und politischer Anstrengungen.“

 

Infektionswellen erreichen ihren Höhepunkt

Virensaison In den Monaten November bis April erreichen die jahreszeitlichen Infektionswellen stets ihre Höhepunkte.

Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV) Die Symptome einer RSV-Infektion ähneln denen der Influenza (Schnupfen, Husten, Fieber, in schweren Fällen Atemnot). RSV wird durch Tröpfcheninfektion übertragen. Erkranken können Menschen jeden Alters. Bei Säuglingen und Kleinkinder ist RSV eine der häufigsten Atemwegsinfektionen. Unter einem Prozent der erkrankten Kinder hat einen schweren Verlauf, einige von ihnen müssen im Krankenhaus beatmet werden. Besonders gefährdet sind Frühgeborene, Kinder mit Lungen-Vorerkrankungen, Herzfehlern oder Immunschwäche.

Influenza A Von schweren Verläufen sind vor allem ältere Patienten betroffen, sie kommen aber auch bei Kindern vor und können zur Notwendigkeit der Beatmung führen. mez