Kreis. Im Landkreis Esslingen gibt es zu wenige Kinder- und Jugendpsychiater. Das bestätigen die Zahlen des Sozialministeriums. Demnach erreicht die Region Stuttgart nur einen Versorgungsgrad von rund 63 Prozent. Eine erschreckend geringe Abdeckung, vor allem angesichts der psychischen Belastungen, die die Corona-Pandemie für junge Menschen mit sich bringt. „Allerdings war die Situation in Baden-Württemberg schon vor Corona desolat“, sagt Dr. Gunter Joas, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Esslingen. Die Pandemie habe die Situation jedoch verschärft. „Die Klinikangestellten arbeiten am Limit, teilweise zwischen zwölf und dreizehn Stunden am Tag“ sagt Joas. Der Bedarf an Behandlungsplätzen sei enorm. „Wird einer der 30 stationären Plätze frei, ist er direkt wieder belegt.“ Man habe gelernt zu improvisieren. Einzelzimmer werden zu Doppelzimmer umfunktioniert und im Spielzimmer werden zur Not Feldbetten aufgestellt.
Die Wartezeit auf einen Behandlungsplatz beträgt oft mehrere Monate. Das betreffe nicht nur den stationären Bereich, sondern auch niedergelassene Psychiater. Dabei gilt es gerade bei jungen Menschen mit psychischen Problemen, keine Zeit zu verlieren. „Unbehandelte psychische Erkrankungen neigen bei Kindern- und Jugendlichen zur Chronifizierung“, warnt Joas. „50 Prozent der psychischen Erkrankungen entwickeln sich bis zum 14. Lebensjahr, 75 Prozent bis zum 24. Lebensjahr.“
Um Betroffenen schnell und unkompliziert eine erste Diagnostik und Beratung bieten zu können, wurde an der Esslinger Klinik die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) eingerichtet. Den Mangel an niederschwelligen Angeboten in der Region versucht man hier aufzufangen, kommt dabei allerdings an die Belastungsgrenzen. „2015 kamen 1133 Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern in die PIA. Im Jahr 2021 waren es 2189“, sagt Joas.
Die Pandemie habe viele psychische Erkrankungen bei jungen Menschen verstärkt. „Essstörungen haben deutlich zugenommen“, sagt der Mediziner. Den Kontrollverlust, den sie durch die Pandemie erfahren haben, wollen sie mit der Kontrolle über ihr Essen kompensieren. Besonders beunruhigend sei, dass immer mehr Kinder unter zehn Jahren betroffen sind. Eine deutliche Zunahme habe es außerdem bei Angstzuständen und Depressionen gegeben. Auch habe man in Esslingen mehr Zwangsstörungen bei Kindern festgestellt. Es bestehe dringender Handlungsbedarf, warnt Joas. Wartezeiten über mehrere Monate seien ein „Unding“, sagt der Chefarzt.
Diese Einschätzung scheint man bei der Kassenärztlichen Vereinigung Baden Württemberg (KVBW) nicht zu teilen. „In der Region Stuttgart ist keine Unterversorgung für die Kinder- und Jugendpsychiater festgestellt“, teilt Kai Sonntag, Pressesprecher der KVBW mit. Richtig sei, dass sich aktuell noch zusätzliche Kinder- und Jugendpsychiater in der Region Stuttgart niederlassen dürften. Von den 27 möglichen Sitzen sind aktuell nur 17 besetzt. Dieses Bild sei jedoch „verzerrt“, da in diesem Bereich eine Reihe von Patienten von Psychiatrischen Institutsambulanzen versorgt werden, die in der Planung aber nicht aufgeführt sind.
Und der niedrige Versorgungsgrad von 63 Prozent? Der Wert sei nur ein „sehr grober Gradmesser, um die Versorgungssituation abzubilden“, so der KVBW-Sprecher. „Die bisherigen Analysen der Versorgungssituation bei den Kinder- und Jugendpsychiatern haben keine Unterversorgung ergeben“, so Sonntag. „Uns ist nicht bekannt, dass Eltern keine Therapieplätze für ihre Kinder finden.“ Eine Aussage, die Chefarzt Gunter Joas verwundert: „Jeden Tag rufen bei uns verzweifelte Eltern an, die keinen Behandlungsplatz für ihre Kinder bekommen.“
In den niedergelassenen Praxen sind die Wartezeiten oft noch länger. Betroffen sind auch Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche wie Reiner Cerfontaine in Nürtingen. „Die Wartezeit auf einen Behandlungsplatz beträgt derzeit zwischen anderthalb und zwei Jahren.“ Cerfontaine selbst hat seine Praxis für Psychotherapie vor zwei Jahren in der Hölderlinstadt eröffnet. Die Pandemie habe wie ein Katalysator gewirkt. Vor allem Angstzustände seien bei Kindern verstärkt aufgetreten. Immer wieder hat Cerfontaine Anfragen verzweifelter Eltern auf dem Anrufbeantworter. „Anfangs gab es zwei Anfragen pro Woche, mittlerweile sind es 15.“
Wenn der Psychotherapeut den Eltern von den langen Wartezeiten erzählt, reagiert kaum noch jemand überrascht. „Viele sind schon dankbar, dass sie überhaupt zurückgerufen werden.“
Um die Situation zu verbessern, braucht es laut Chefarzt Joas mehr Angebote, bei denen Eltern und ihren Kindern schnell und unkompliziert geholfen wird. So wie in den Psychologischen Beratungsstellen für Familie und Jugend des Landkreises Esslingen. „Durch den hohen Bedarf ist eine schnell erreichbare Unterstützung derzeit nur begrenzt einlösbar“, sagt Regina Weissenstein, Sachgebietsleiterin der Psychologischen Beratungsstellen. Laut Weissenstein hat die Corona-Krise bestimmte Problemlagen bei Kindern und Jugendlichen verstärkt. „Das zeigt sich in Aggressionen, Depressionen, aber auch suizidalen Gedanken.“ Ein wichtiges Ziel der Arbeit sei die Weitervermittlung zur medizinischen Diagnostik und psychotherapeutischen Behandlung. „Diese Lotsenfunktion der Beratungsstellen ist aufgrund der schwierigen Versorgungslage in den Bereichen der ambulanten und stationären Psychotherapie schwer umzusetzen“, sagt Weissenstein.