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Klaus Däschler denkt an einen Fall, der bis heute erschüttert

Verbrechen Die sechsjährige Alexandra ist vor 22 Jahren einem pädophilen Täter zum Opfer gefallen. Der damalige Ermittler Klaus Däschler erinnert sich. Von Harald Flößer

Sie verschwand auf dem Weg zur Kindertagesstätte in Filderstadt-Bonlanden, irgendwann zwischen 10.45 und 11.45 Uhr. In großer Sorge um ihre Tochter Alexandra alarmieren die Eltern am Abend des 5. Oktober 2000 die Polizei. Der Beginn einer Tragödie, die gut vier Monate später mit dem Geständnis eines pädophilen Verbrechers endet. Er hat die Sechsjährige missbraucht und später getötet. Ihren Leichnam verscharrte der damals 37-Jährige auf dem Friedhof in Leinfelden.

Alexandras Schicksal ging vor 22 Jahren durch alle Medien. Klaus Däschler erinnert sich trotz der langen Zeit noch an viele Details. Der 61-Jährige war damals Hauptsachbearbeiter in der zeitweise bis zu 50 Einsatzkräfte umfassenden Sonderkommission der Kriminalpolizei Esslingen, die über Monate ihre Ermittlungsarbeit im heutigen Polizeirevier in Filderstadt verrichtete. Die Anteilnahme in der Bevölkerung sei riesig gewesen, erzählt der mittlerweile pensionierte Kriminalhauptkommissar, der nach seiner Zeit bei der Polizei bis März dieses Jahres Bürgermeister in Neidlingen war. „Es herrschte große Verunsicherung.“ Zehn Teams gingen damals 1200 Spuren nach. „Wir haben von Anfang an versucht, die Öffentlichkeit und die Eltern mitzunehmen. Wir haben für eine professionelle Begleitung Sorge getragen“, erinnert sich Däschler.

Irgendwann kam ein entscheidender Hinweis aus der Bevölkerung: Der später als Täter überführte Kältetechniker habe sich beim Joggen ziemlich auffällig verhalten. Die Ermittler machten in den Akten eine Notiz und leiteten den Hinweis weiter. Vielleicht nur ein gewöhnlicher Spanner? „Das war etwa eine Woche vor der Festnahme des Tatverdächtigen“, erinnert sich Däschler.

 

Ich habe gleich gespürt: Der Mann verhält sich ziemlich komisch.
Klaus Däschler
Ex-Polizeiermittler
 

Die Sonderkommission nahm den Mann genauer unter die Lupe. Er habe gespürt, „da passt etwas nicht, der Mann verhält sich irgendwie komisch“, so Däschler. Nach mehreren Gesprächen habe sich der Verdacht erhärtet. Der zuständige Staatsanwalt verfügte die Durchsuchung der Wohnung. Dort stießen die Ermittler auf kinderpornografische Abbildungen. Das Auffällige daran: Darunter befanden sich auch ähnliche Fotos, wie man sie bereits vor der Tat auf dem Weg zum Schulzentrum gefunden hat. Damit war der Mann dringend tatverdächtig.

Nach mehrfachen Vernehmungen räumte der 37-Jährige das Verbrechen schließlich ein. „Irgendwann muss so jemand das Geschehene erzählen, weil er damit alleine nicht klarkommt.“ Das wisse er von vielen Tötungsdelikten, die er in seiner 25-jährigen Zeit bei der Mordkommission bearbeitet hat. In dieser Zeit habe er stets an einem Grundsatz festgehalten: Jeder, egal, was er getan hat, hat ein Recht darauf, dass man respektvoll mit ihm umgeht. „Man muss fair und ehrlich mit den Leuten umgehen“, so Däschler.

Im Fall Alexandra führte der Täter Klaus Däschler zum Friedhof in Leinfelden. In einem Doppelgrab hatte er dort den Leichnam des Mädchens vergraben. Mit so viel Mühe, dass kein Friedhofgänger den Eingriff bemerkt hatte. Vor dem Stuttgarter Landgericht schilderte der Mann später, dass er seit seiner Jugend aus Schüchternheit Mädchen heimlich auf dem Schulweg beobachtet habe. Auf Alexandra sei er zufällig aufmerksam geworden. „Ich habe sie über den Haufen gerannt. In diesem Moment brannten bei mir die Sicherungen durch“, sagte der Techniker. Er habe das Mädchen in eine Decke gewickelt und in seine Wohnung gefahren. Dort habe er sich an ihr vergangen. Am Abend habe er der Kleinen Schlaftabletten in die Spaghetti gemischt. Als die nicht richtig wirkten, habe er Alexandra mit einem Kissen erstickt, das er zuvor in eine Plastiktüte gesteckt hatte.

Gegen eine Freilassung

Der Angeklagte berichtete vor Gericht, wie er sie anschließend auf die Couch im Wohnzimmer gelegt habe. „Ich dachte, sie schläft und wacht wieder auf“, sagte er. Eine Woche lang habe er die Leiche in der Wohnung und auf dem Balkon versteckt. Dann habe er den Körper auf dem Friedhof vergraben.

Die Vorkommnisse von damals wird Ex-Ermittler Klaus Däschler nie aus seinem Gedächtnis streichen können. Alexandras Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Strafe verbüßt er noch heute. Denn im Urteil wurde die „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt. Das bedeutet, dass in der Regel frühestens nach 23 Jahren Gefängnis geprüft wird, ob eine Entlassung möglich ist. Sonst erfolgt diese Prüfung bereits nach 15 Jahren. Däschler hält mit seiner Einschätzung nicht hinterm Berg. Eine Freilassung sei für ihn mit einem so ausgeprägten, von Kindesbeinen an gewachsenen pädophilen Verhalten nicht verantwortbar.

 

1200 Zeugenhinweise gingen ein

Aktenzeichen XY Das Schicksal der sechsjährigen Alexandra und der spätere Mord-Prozess vor dem Landgericht Stuttgart hatten vor 22 Jahren bundesweit Wellen geschlagen. Mit Fotos und einem Steckbrief baten die Eltern und die Polizei um Hinweise. Zweimal gab es Aufrufe in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“. Bei der Sonderkommission gingen damals 1200 Zeugenhinweise ein.

Kelly-Inseln Die nach dem Verbrechen von einem Initiativ-Kreis gegründete Alexandra-Sophia-Noack-Stiftung setzte sich die Prävention von Sexualstraftaten zum Ziel. Außerdem kümmerte sie sich um die psychosoziale Nachsorge von betroffenen Kindern und deren Angehörigen. Aus dieser Stiftung heraus entstanden später die Kelly-Inseln, ein Kinderschutzprojekt der Kriminalprävention, das Kindern mit dem Logo „Ich helfe dir“ sichere Anlaufstellen in Kommunen bieten soll, beispielsweise in Geschäften sowie kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen. 2005 wurde das Projekt, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen feierte, vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler mit dem Deutschen Förderpreis für Kriminalprävention. hf