Warum unterscheidet sich meine Arbeitszeit von der meiner Kolleginnen und Kollegen in anderen Gemeinden? Warum fällt meine Jahres-Gratifikation anders aus? Fragen, die sich kommunal Bedienstete von der Kita-Kraft bis zum Bauhofmitarbeiter schon mal stellen und die auch Gewerkschaften wie Ver.di beschäftigen. Die Antwort darauf steht in einem Bericht des Deutschen Gewerkschaftbundes (DGB), der ans Licht bringt, was im Berufsalltag kaum Beachtung findet: Die Mehrheit der Städte und Gemeinden unterliegen keiner Tarifpflicht, weil sie nicht Mitglied im kommunalen Arbeitgeberverband sind.
Im Kreis Esslingen gilt das für 26 der insgesamt 44 Kommunen. Während die Großen Kreisstädte und damit auch die größten Arbeitgeber dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) gesetzlich die Treue halten, geschieht dies vor allem in kleineren Gemeinden allenfalls freiwillig. Im Nachbarkreis Göppingen fällt die Quote noch deutlich schlechter aus. Dort sind nur neun der 38 Kreiskommunen Mitglied im Arbeitgeberverband. Besondere Brisanz erfährt das Thema, das man bisher nur aus der freien Wirtschaft kannte, weil Deutschland den Druck der EU spürt. Die verlangt, die Tarifquote bundesweit auf 80 Prozent zu erhöhen. Jetzt zeigt sich: Die öffentliche Hand – also der Staat selbst – geht mit schlechtem Beispiel voran.
Zu einer Sozialpartnerschaft gehören immer zwei Seiten.
Benjamin Stein, Geschäftsführer von Ver.di im Bezirk Fils-Neckar-Alb
Warum ist das so? Darauf findet man selbst in Gewerkschaftskreisen nur schwer eine Erklärung. Ob sich manche Kommunen mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung von Arbeitsverträgen bewahren oder einfach nur Verbandsbeiträge sparen wollen, erschließt sich auch Benjamin Stein, Geschäftsführer im Ver.di-Bezirk Fils-Neckar-Alb, nicht. Zumal sich die große Mehrheit der Kommunen ohne Tarifpflicht freiwillig daran hält. Angesichts von Fachkräftemangel und angespannter Arbeitsmarktlage bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, will man auf dem Markt konkurrenzfähig bleiben. Dennoch fällt auf: Je näher Kommunen an der Landeshauptstadt liegen, desto größer die Bereitschaft zur Tariftreue. Konkurrenz und Vergleichbarkeit spielen in der Verwaltung also eine wesentliche Rolle.
Für die Gewerkschaften ist Tarifautonomie mehr als eine historische Errungenschaft, die man nicht fahrlässig aufs Spiel setzen sollte. „Beschäftigte müssen sich im Klaren sein, dass in solchen Fällen keinerlei Rechtsbindung besteht, auch wenn sie von gleichen Konditionen profitieren“, gibt Gewerkschaftsfunktionär Benjamin Stein zu bedenken. „Zu einer Sozialpartnerschaft gehören eben immer zwei Seiten.“ Besonders paradox wird das Thema, wenn man Kommunen heranzieht, die Arbeitsverträge über Tarif anbieten. Auch solche Fälle gibt es.
Michael Schlecht ist seit einem Vierteljahrhundert Bürgermeister in Lenningen – einer Gemeinde mit 8200 Einwohnern, sieben Ortsteilen und knapp mehr als 220 kommunal Bediensteten. Lenningen zählt wie Owen, Dettingen oder Bissingen zu den Kommunen, die nicht tarifgebunden sind. Die offenen Stellen, die derzeit zu besetzen sind, zumeist mit pädagogischen Fachkräften in einer der acht Kindertagesstätten der Gemeinde, werden alle strikt nach Tarif vergütet. „Kein Arbeitgeber kann es sich leisten, sich in diesem Bereich unter Tarif zu bewegen“, meint der Bürgermeister. Bei Teilzeitkräften oder Geringbeschäftigten, von denen es in der Gemeinde viele gibt, sei mehr Flexibilität ein klarer Vorteil – auch für Arbeitnehmer. „Wenn ich die Freibad-Kassiererin oder die Museums-Aushilfe nach TVöD bezahlen müsste, um das Gesamtgefüge zu wahren“, sagt er, „dann bekäme ich keine Leute dafür.“ Soll heißen: Die Gemeinde zahlt in diesen Bereichen sogar mehr. Schlechts Fazit: Eine Mitgliedschaft im Verband, die die Gemeinde pro Jahr rund 1500 Euro kosten würde, bringe keinerlei Vorteil.
In Weilheim klingt das anders. Die Limburgstadt als Mittelzentrum mit knapp 10.400 Einwohnern ist Mitglied im kommunalen Arbeitgeberverband – und das offenbar aus Überzeugung. „Ein verlässlicher Rahmen für Entgelte und Arbeitsbedingungen ist die Grundlage für Rechtssicherheit und Chancengleichheit“, unterstreicht Weilheims Hauptamtsleiterin Daniela Braun. Das bringe Vorteile für beide Seiten. Es sei die Basis für ein faires Miteinander und für eine Grundzufriedenheit unter den Beschäftigten. „Auch wenn die geringere individuelle Flexibilität in Zeiten des Fachkräftemangels auf den ersten Blick manchmal als Nachteil erscheint.“
Der größte kommunale Arbeitgeber im Kreis Esslingen, das Landratsamt und die drei Kreiskliniken, sind übrigens ebenfalls Mitglied der Tarifgemeinschaft.