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Konsumfreie Zonen sollen die Nürtinger Innenstadt beleben

Einzelhandel Wie kann Nürtingen sich gegen die Konkurrenz durch Metzingen und Kirchheim behaupten? Ein HfWU-Professor gibt Tipps. Von Corinna Meinke

Das Bild in der Nürtinger Innenstadt wird zunehmend von Filialisten geprägt. Foto: Ines Rudel

Funktioniert eine Innenstadt mit weniger Konsum? Dirk Funck, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU), empfiehlt eine Belebung der Nürtinger Innenstadt mit Hilfe konsumfreier Zonen. Angesichts starker Konkurrenz durch die Outletcity Metzingen, hoher Ladenmieten und einer Konsolidierung der Verkaufsflächen fordert der Handelsfachmann ein nachhaltiges Leitbild für die Stadt.

Gegen starke Mitbewerber, zu denen auch das attraktive Kirchheim zählt, habe Nürtingen wenig Chancen. Zumindest nicht mit einer klassischen Handelsstruktur, davon ist Dirk Funck überzeugt. Der Professor, der an der HfWU Handelsmanagement, Multi-Channel-Retailing und soziales Unternehmertum lehrt und zudem Mitglied der Leitung der Steuerungsgruppe Fairtrade Stadt Nürtingen ist, fordert für die Stadt ein spezielles und nachhaltiges Profil, um die eher schwache Kaufkraftbindung wettzumachen.

 

Schwindet das Angebot, bestraft das der Verbraucher schon nach wenigen Enttäuschungen.
Dirk Funck, Handelsfachmann

 

Mit der Idee einer nachhaltigen Stadtentwicklung stößt Funck bei Oberbürgermeister Johannes Fridrich und vielen Akteuren in der Stadt auf offene Ohren. Als fair und nachhaltig gelten in Nürtingen neben dem Weltladen der Unverpacktladen Glas & Beutel, das Geschäft Secontique für hochwertige, bereits getragene Kleidung der Aktion Hoffnung und das im Januar in der Fußgängerzone eröffnete genossenschaftlich getragene Nürtinger Welthaus. Die Stadt ist 2024 als „Fairtrade Town“ rezertifiziert worden.

Wie Funck berichtet, konnte das Nürtinger Welthaus dank der Einlagen von bereits 350 Genossinnen und Genossen erworben werden, um hohe Mieten zu vermeiden. Der Kauf sei für eine Stadt von der Größe Nürtingens ungewöhnlich, aber sehr erfreulich, sagt Funck, der Vorstand der Bürger- und Bürgerinnen-Genossenschaft ist. Platziert werden sollen faire und nachhaltige Angebote in den Bereichen Handel, Gastronomie und Wohnen, kombiniert mit konsumfreien Angeboten wie einem Jugendcafé, gemeinsamem Restekochen, Vorträgen und Kultur.

In seiner Analyse verweist Funck auf die bedeutsame Rolle der Textilbranche als Indikator für einen attraktiven Standort, denn Textil sei die Leitbranche für den städtischen Einzelhandel. Den Begriff Leitbranche müsse man zunehmend mit „D“ schreiben, denn momentan sei zu erleben, wie zahlreiche Textilanbieter ihre Flächen konsolidierten und damit verkleinerten. „Viele Städte haben diese Probleme“, erklärte Funck und ergänzte, das erlebe der Handel bundesweit, nicht nur mit Galeria Kaufhof. Selbst ganz große Anbieter wie beispielsweise H&M verkleinerten ihre Verkaufsflächen.

Nürtingen erlebte 2018 mit der Schließung des alteingesessenen Traditionskaufhauses Hauber einen großen Einschnitt. Dann schlossen auch noch zwei Schuhgeschäfte. Inzwischen habe sich in Nürtingen eine gewisse Monokultur entwickelt, was zum Beispiel die große Zahl an Brillenläden und anderen Filialisten zeige.

Als traditionelle Bildungsstadt mit früher landwirtschaftlicher Prägung tut sich Nürtingen nach Funcks Worten als Einkaufsstadt bedeutend schwerer als Kirchheim, das immer schon Marktstadt gewesen ist. Und als weiterer starker Player mache die nur 14 Kilometer entfernte starke Outletcity Metzingen dem Nürtinger Handel ebenfalls das Leben schwer. Dass Nürtingen Kaufkraft abgibt, belegt laut Funck die Zentralitätskennziffer von unter 100. Die IHK-Bezirkskammer Esslingen-Nürtingen hat 2023 für Nürtingen eine Zentralitätskennziffer von 87,7 ausgewiesen. Liegt der Wert über 100, findet Kaufkraftzufluss statt, unter 100 reicht die Attraktivität als Einzelhandelsstandort nicht aus, um die Kaufkraft zu binden.

Und das spiegle sich auch im Alltäglichen wider: „Wenn das Angebot in der Breite und in der Tiefe in der gesamten Innenstadt schwindet, bestraft das der Verbraucher schon nach wenigen Enttäuschungen“, erklärt der Handelsexperte. Und das Zurückholen der Kundschaft sei viel schwieriger als das Halten. Anstrengungen der Einzelhändler und der städtischen Verwaltung, die Stadt durch zahlreiche Märkte und Aktionen zu beleben, seien gut und sorgten für Erlebnisse. Das ändere aber nichts an der unbefriedigenden Situation: „Der Impuls verpufft, wenn er nicht auf Substanz trifft.“

Selbst das Nürtinger Tor kann laut Funck die Innenstadt nicht retten. Hier sei eher mit dem Effekt des „One stop shopping“ zu rechnen. Die Frage sei, ob die Leute danach noch in die Fußgängerzone gehen. Das bleibe abzuwarten. Nach mehrjährigem Umbau hatte das revitalisierte Einkaufszentrum Nürtinger Tor im September 2023 wieder eröffnet.