Seit 1983 besteht die Partnerschaft zwischen dem Kreis Esslingen und der israelischen Stadt Givatayim. Eine enge Freundschaft, die nach mehr als 40 Jahren eine erste ernsthafte Bewährungsprobe zu überstehen hat. Auf der einen Seite ein Staat, dessen politische Führung als rechtsradikal gilt, dessen Regierungschef vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verfolgt und dessen Vergeltungskrieg von Menschenrechtsorganisationen als Völkermord eingestuft wird. Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Aussöhnung und Völkerverständigung vor dem Hintergrund des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte. Die Frage, die sich nicht nur im Kreis Esslingen stellt: Lässt sich beides voneinander trennen?
Es herrschte Fassungslosigkeit, und es flossen Tränen.
Der Schulleiter der Philipp-Matthäus-Hahn-Schule, Wolf Hofmann, über den Tag des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023.
Wolf Hofmann ist Schulleiter der Philipp-Matthäus-Hahn-Schule in Nürtingen. Die technische Berufsschule pflegt im Rahmen der Landkreis-Partnerschaft seit mehr als 30 Jahren einen engen Austausch mit dem ORT-Technikum in Givatayim am Rande Tel Avivs. Den 7. Oktober 2023, den Tag des grauenhaften Massakers der Hamas an mehr als 1200 israelischen Zivilisten und der Verschleppung von mehr als 200 Geiseln in den Gazastreifen nennt Hofmann die schwärzeste Stunde, die er an der Schule erlebt habe. An diesem Montag, an dem die Schreckensbilder aus dem israelischen Grenzgebiet um die Welt gehen, stehen Lehrer und Schüler unter Schock. „Es herrschte Fassungslosigkeit, und es flossen Tränen“, erinnert sich Hofmann.
Bis kurz zuvor war eine israelische Schülergruppe zu Gast gewesen. Am Mittwoch nach dem Überfall hätte die Nürtinger Seite zum Gegenbesuch aufbrechen sollen. Jetzt machten die Ereignisse Israel zum Kriegsgebiet. Austauschschüler und Lehrer der Kirchheimer Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule erleben diese Stunden hautnah vor Ort: Die Gruppe wird drei Tage nach Beginn ihres Austauschprogramms in Givatayim von den Ereignissen überrascht. Weil es auf die Schnelle keine Evakuierungsflüge durch das Auswärtige Amt gibt, nimmt die Delegation aus Kirchheim diplomatische Hilfe aus Island an. Auf ihrer Odyssee geht es zunächst auf dem Landweg nach Jordanien und von dort per Flugzeug über Reykjavik zurück in die Heimat.

Freundschaften unter den Jugendlichen beider Seiten bestehen weiterhin, auch wenn der Austausch ruht und ein zunehmend militärischer Ton an mancher Stelle für Irritationen sorgt. Social Media kennt keine Krisen. Ob und unter welchen Bedingungen jemals wieder an Schülerreisen zu denken sein wird, steht in den Sternen. Wie also umgehen mit der Situation? „Unsere Geschichte aufzuarbeiten, Freundschaften zu schaffen, ist unsere Pflicht“, sagt Schulleiter Wolf Hofmann. Er weiß aber auch: Dass Netanjahu offiziell als Kriegsverbrecher gilt, lässt sich nicht einfach vom Tisch wischen. Die Zeiten haben sich geändert. Die meisten der ehemaligen Austauschschüler auf israelischer Seite sind wie viele Lehrer zum Militär eingezogen. Es bleiben Erinnerungen an glücklichere Zeiten, in denen eine friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern greifbar schien und sich dies auch in der Partnerschaft niederschlug: Als sich die Schulleitung in Givatayim für eine Erweiterung des Bundes auf die Agricultural Technical Highschool in Rama stark machte – einer rund 8000 Einwohner zählenden Stadt in der palästinensischen Zone nahe der Grenze zum Libanon. Seit 2001 steht auch die Schule in Rama im regelmäßigen Austausch. Der Nürtinger Schulleiter will die Hoffnung nicht aufgeben, dass das, was in jahrzehntelanger Hege gewachsen ist, Bestand haben wird. In zwei Jahren wird er in Pension gehen. „Ich will nicht der sein, der hier den Schlusspunkt setzen muss“, sagt Hofmann.
Erste Kontakte bereits 1966
Der frühere Landrat Heinz Eininger hat während seiner 24-jährigen Amtszeit die Kreispartnerschaft in offizieller Funktion am längsten begleitet und hütet bis heute ein dichtes Netz persönlicher Freundschaften. Seine Erfahrungen im langjährigen Austausch nutzt er, um sich im Ruhestand am Aufbau eines deutsch-israelischen Jugendwerks zu beteiligen. Gemeinsam mit Michael Blume, dem Antisemitismus-Beauftragten der Landesregierung, möchte er im Südwesten vertiefen, was mit ersten Israel-Kontakten des Esslinger Kreisjugendrings bereits 1966 und damit so früh wie sonst nirgendwo im Land seinen Anfang nahm. Eininger weiß: Die engen Beziehungen beider Länder müssen politisch getragen sein, gedeihen dauerhaft aber nur, wo sie tief wurzeln: in Kommunen, in Schulen, in Vereinen. „Von unten nach oben, nicht von oben herab“, sagt Eininger, könne dauerhafte Freundschaft alleine wachsen. Eine Freundschaft, die auch Disput aushalten muss. Es dürfe niemals vergessen werden, wer am 7. Oktober der Aggressor war. „Was seitens der israelischen Koalitionsregierung im Moment aber passiert, ist völkerrechtswidrig und maßlos“, wählt Eininger klare Worte zum gegenwärtigen Kurs Israels im Gazastreifen, wo die Zivilbevölkerung seit Monaten unermessliches Leid erfährt.

Ortswechsel: In Kirchheim ist am 5. Mai dieses Jahres hoher Besuch angesagt. Die neue Generalkonsulin Israels, Talya Lador-Fresher, trägt sich beim Antrittsbesuch unter der Teck ins Goldene Buch des Landkreises ein. Landrat Marcel Musolf und Vertreter aus Verwaltung, Schulen und Kliniken bereiten dem Gast einen herzlichen Empfang. Dass sie Netanyahus internationale Ächtung für Unrecht hält, daraus macht die Diplomatin an diesem Tag keinen Hehl. Über den Besuch wird erst im Nachgang berichtet. Ein Fernsehteam des SWR ist für einen kurzen Beitrag vor Ort. Die Kreispresse ist diesmal nicht eingeladen. In einer Zeit, in der in deutschen Städten pro-palästinensische Kundgebungen an der Tagesordnung sind, fürchtet man offenbar auch in Kirchheim Störaktionen.

Landrat Marcel Musolf, seit knapp einem Jahr im Amt, tritt das Erbe von mehr als vier Jahrzehnten deutsch-israelischer Partnerschaft im Kreis in schweren Zeiten an. Krisen gab es im Lauf dieser Jahre immer wieder. Während der zweiten Intifada zu Beginn dieses Jahrtausends besuchten Kreis-Delegierte in schusssicheren Westen das heilige Land. Ähnlich belastet wie zur Stunde war das Verhältnis allerdings nie. Auch Musolf nennt die Situation im Gazastreifen eine humanitäre Tragödie. „Das Leid der Bevölkerung, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion, berührt uns zutiefst“, sagt der Landrat. „Gleichzeitig sind uns die komplexen politischen Hintergründe sowie die Sicherheitsinteressen Israels bewusst.“ Man stehe fest an der Seite der Menschen in Givatayim und in Israel, die für Sicherheit, Stabilität und ein friedliches Zusammenleben eintreten. Indes: Musolfs Ruf nach einer nachhaltigen Lösung, die auf Dialog, Respekt und Menschenrechten basiert, klingt angesichts der sich weiter verhärtenden Fronten wie ein frommer Wunsch. Bis sich Schulklassen wieder auf den Weg nach Israel machen und Kulturaustausch den Krieg verdrängt, könnte es noch lange dauern.
