Es war eine außergewöhnliche Recherche. Aber genau das passt zu der Frau, die jeden Rahmen sprengte: D‘Marthl. Viele werden die Wirtin aus Brucken noch kennen, der der Schalk nicht nur aus den Augen blitzte, sondern den sie ihren Gästen gerne auch deftig gewürzt entgegenschleuderte. Martha Stümpflen war der eigentliche Name der Frau, die tagaus-tagein mit Kittelschürze und gefärbter Dauerwelle hinterm Zapfhahn stand. Bekannt war das Original allen nur als Marthl. Und lange Zeit wäre Brucken ohne Marthl eben nicht Brucken gewesen.
Corona-bedingt findet das Gespräch mit dem Ideengeber Dieter Runk am Teckberg statt. Während sich drunten im Tal die Nebel lichten, bringt der Kirchheimer so manche Geschichte um die Frau zum Vorschein, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte und die vor 25 Jahren starb. Die Fotos, dank Google und dörflichem Buschfunk aufgestöbert bei ihrem Enkel Mario Stümpflen, zeugen davon, dass seit ihrem Tod schon einiges Wasser die Lauter talabwärts geflossen ist.
„Salz en dr Gosch ond Hoor uf de Zäh‘“, hatte der Teckbote einst getitelt. Es war genau diese Mischung, die die Chefin des Bruckener „Inselstübles“ ausmachte. Zwischen dem legendären, hygienisch nicht ganz einwandfreien Spüllappen im Gesicht und einem schmeichelnden „Schätzle, willsch zahla?“, lagen oft nur wenige Augenblicke. „Sie war so ein Spring-Teufel“, sagt Dieter Runk. Mal war das Kartenspielen in Ordnung, dann wieder gehörte es zu einer der vielen Todsünden.
Und wehe, wenn einer auf der Musikbox das falsche Lied wählte oder sie zu stark aufdrehte, dann wackelte die ältere Dame entschlossen los und zog den Stecker. Dann war „a Ruah“ und das „Gedudle“ hatte ein Ende. Wohl dem, der die Gepflogenheiten kannte. „Schmalztöpfe“ oder „Speckdeckel“ auf dem Tisch - gemeint waren Motorradhelme - gingen beispielsweise gar nicht.
Die Storys, die sich um die untersetzte Frau ranken, die aus dem Sudetenland stammte und nach dem Zweiten Weltkrieg erst die Bahnhofsgaststätte in Oberlenningen betrieb, sind weit über das Lenninger Tal hinaus bekannt. „Selbst im Urlaub auf Ibiza wurde ich auf sie angesprochen“, sagt ihr Nachbar Jürgen Joos lachend. Er schüttelt heute noch den Kopf über das Phänomen „Marthl“. Das Wirtshausschild ist längst abmontiert. Nur im Garten erinnern noch die typischen Biergartenlaternen an die alten Zeiten, als die Boiz an der Bruckener Kanalstraße Umschlagplatz für den neuesten Tratsch im Täle war.
Die Lokführer genehmigten sich vor der Weiterfahrt im Inselstüble ein kühles Blondes
Die Nachbarn, die nach wie vor in den umliegenden Häusern wohnen, erinnern sich gerne an die urige Kneipe und ihre umtriebige Besitzerin. „Da hat man sich einfach irgendwo dazugesetzt und war gleich dabei“, erzählt Jürgen Joos. Gerd Raichle von schräg gegenüber sinniert: „Das waren schöne Zeiten.“ Regelmäßig holten die Nachbarn im Inselstüble Fassbier, im Sommer gab es für sie ab und zu Göckele. Im Gegenzug halfen sie der Wirtin, wenn mal wieder eine Sicherung rausgeflogen war oder es etwas zu reparieren gab. „Viele kennen sie nicht von der normalen Seite“, sagt Gerd Raichle. Seine Frau Ursula erinnert sich an den Spielautomaten und schmunzelt: „D‘Marthl selbst hat am meisten gespielt.“ Und dann blitzt da noch eine skurrile Geschichte auf: Regelmäßig hielten offenbar Güterzüge an dem Bahnübergang, weil sich die Lokführer vor der Weiterfahrt im Inselstüble ein kühles Blondes genehmigten.
Wer es wagte, eine Pizza zu bestellen, flog hochkant raus
Wie für so viele seiner Generation war für den heute 50-Jährigen Dieter Runk und seine Kumpel der Besuch im Inselstüble Kult. „Es waren extrem viele junge Leute drin, auch weil es so billig war“, meint er. Ob „Spätzla mit Soß“ wirklich nur 1,50 oder doch drei Mark kosteten, lässt sich heute nicht mehr ergründen. Billig, gut und viel war es auf jeden Fall, was einem aufgetischt wurde und das komplett aufgegessen werden musste. Obwohl „aufgetischt“ eigentlich nicht der richtige Begriff ist. Wer erwartete, dass er bedient wurde, auf den prasselten wüste Beleidigungen nieder. Nein, wer Hunger oder Durst hatte, musste zur Theke. Und wer es wagte, ein Weizenbier oder gar eine Pizza zu bestellen, musste damit rechnen, von der nur 1,56 Meter großen Wirtin hochkant rausgeschmissen zu werden.
Gemessen an der Bedeutung, die dem Inselstüble heute noch beigemessen wird, war nicht nur die Chefin, sondern auch das Wirtschäftle klein. In dem beengten Gastraum rückten die Besucher zusammen. Es sei denn, man gehörte zu den „Schätzla“ und wurde nach durchzechter Nacht nach nebenan gebeten. Im „Saal“ stand gerade mal ein Tisch in der Ecke.
„Marthel‘s Goißa-Rock“
Obligatorisch war die „Goiß“ - eine Mischung aus Bier, Cola und je nach Laune einem kräftigen Schluck Cognac. Wirtin und Kultgetränk genossen einen solchen Status, dass sich die sechsköpfige Nachwuchsband „Marthel‘s Goißa-Rock“ nach beidem benannte. Eisern hält sich indes das Gerücht, dass selbst der Kabarettist Mathias Richling das Bruckener Unikum parodierte. Er selbst verbannt diese Geschichte ins Reich der Fantasie. „Ich gehe in keine Kneipe“, sagt er am Telefon knapp. - Womöglich hätte er sich als „Schduagerder Waldsch...“ von der scharfzüngigen Wirtin auch so manche Tirade anhören müssen.
Jemand, der sich sehr gut an die Betreiberin des Inselstübles erinnert, ist Mario Stümpflen. Donnerstags, am Ruhetag, blieb bei Marthl die Küche kalt. Dann ging sie mit ihrem Enkel auswärts essen und anschließend wurde in Dettingen beim Ehninger eingekauft. „Sie war eine liebevolle Oma“ sagt der 32-Jährige. „Und ich war offensichtlich ihr ganzer Stolz.“