Nach dem Auftakt in der Kirchheimer Linde mit einer Diskussion über Nationalstolz unter türkischen Migranten und Migrantinnen hat die „Sprechbar“ des Kreisjugendrings nun im Esslinger Komma stattgefunden. Auch dieses Mal ging es um ein brisantes, gesellschaftspolitisches Thema: Jugend- und Bandenkriminalität in der Region Stuttgart.
Eingeladen hatte man dazu den Politikwissenschaftler Dr. Mahmoud Jaraba, der am Forschungszentrum Islam und Recht der Universität Erlangen seit mehr als zehn Jahren forscht. Der dreifache Familienvater mit palästinensischen Wurzeln
„Die Protagonisten kommen schnell an viel Geld, ohne Ausbildung.
Dr. Mahmoud Jaraba über die Anziehungskraft von „Gangsta-Rap“ in bestimmten Milieus
hat den Vorteil, leichter einen Zugang zu den verschlossenen Milieus zu finden. Aber auch er braucht Jahre, bis er Zugang zu Familien bekommt, ihren Alltag und ihre Probleme, um dann herauszufinden, welche Faktoren dazu führen, dass Jugendliche aus migrantischen Umfeld kriminell werden.
Ihm ist wichtig, vor allem mit einem Vorurteil aufzuräumen: „Die Clankriminalität an sich gibt es nicht, die findet so nur in Spiegel TV statt“, sagt er. Vielmehr seien es unübersichtliche Strukturen, gebe es Teile von Familien, die kriminell werden, andere nicht. „Aber es gibt nicht den einen Clan-Boss, der alle Fäden in der Hand hält. Das wäre ja viel einfacher für meine Arbeit und die der Polizei“, sagt er und löst trotz des ernsten Themas Heiterkeit im Publikum aus. Warum manche Familienmitglieder kriminell werden, andere nicht – das stellt einen großen Teil seiner Forschungsarbeit dar.
Statt der kriminellen Großfamilie haben sich heute viele Sub-Sub-Clans und Sub-Gruppen ausdifferenziert, sogenannte bayts, welche die „Ur-Familie“ oft nicht mehr kennen. Für „normale“ Familienmitglieder werde der Familienname sogar zur Bürde. „Ich habe mit einer Frau in Essen gesprochen, die zu einer solchen Familie gehört und als Erzieherin arbeiten möchte. Sie hat 200 Bewerbungen geschrieben, findet mit ihrem Nachnamen aber keinen Job. Vielleicht waren es nicht wirklich 200, aber das Problem existiert“, sagt er. „Ich kenne viele gut integrierte Menschen aus diesen Familien.“ Der relativ kleine kriminelle Teil bekomme aber überproportional viel mediale Aufmerksamkeit.
So nah wie Jaraba kommen wohl nur wenige den Menschen dieser Milieus. Den ersten Kontakt hatte ihm ein palästinensischer Freund vermittelt, daraus sind über Jahre Hunderte mehr entstanden. Er staunt manchmal selbst, wie offen manche mit ihm umgehen. „Ich habe mit einem wirklich kriminellen Mitglied einer Familie in Essen gesprochen und traute mich nicht zu fragen, ob ich das Gespräch aufnehmen darf. Dann sagt er mir im ersten Satz, dass ich alles aufnehmen soll“, sagt er. Viele wollten sich auch darstellen und mit ihren Taten eine Öffentlichkeit finden.
Das Problem, das viele Zuhörerinnen und Zuhörer an diesem Abend in das Komma geholt hat, darunter viele Sozialarbeiter, ist aber das der nachkommenden Jugendlichen, die immer jünger werden. Das ist auch Jaraba nicht entgangen. Er sieht dabei einen Zusammenhang mit der Zunahme von Geflüchteten 2015/16. Seitdem würden sich junge Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt bestehenden Banden anschließen. Vor allem, weil sie auf schnelles Geld angewiesen sind, etwa um Schleuser zu bezahlen. Ebenso entstünden neue Arten von Banden, etwa syrische, die es bislang nicht gab. Jaraba nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: „Es gibt Probleme mit Gewalt, die zu einer gesellschaftlichen Verunsicherung führen. Wer diese Angst benutzt, bekommt bei der Wahl die Stimme.“
Kulturell sei Gangsta-Rap ein wichtiger Faktor. „Gewalt wird als Mittel glorifiziert. „Das ist für viele Jugendliche aus diesen Milieus ein Vorbild“, sagt er. Social Media wie Tiktok spiele dabei eine zentrale Rolle. „Echte“ Bildung bleibt dagegen auf der Strecke. Eine erschreckende Zahl, die im Publikum niemand richtig geschätzt hat: „Von 100 Kindern in einem ,Clan‘ schaffen nur vier einen Schulabschluss.“ Hinzu komme die Konzentration sozial benachteiligter Familien in strukturschwachen Stadtvierteln, eine Folge verfehlter Sozialpolitik seit den 80er-Jahren. Dort docken Banden an, zumal sie auch ein Gefühl von Zugehörigkeit bieten, das den Jugendlichen fehlt.
Frei trotz 73 Straftaten
Die Familien könnten den Kindern häufig keinen Halt bieten, auch fehle es an Kontrolle und strenger Erziehung. Der Grund klingt kurios: „Die haben Angst vor staatlichen Behörden wie dem Jugendamt. Die denken, wenn sie mit ihren Kinder streiten, kommt das Jugendamt. Ich habe das selbst in der Nachbarschaft erlebt.“
Was also tun? Jaraba befürwortet einen Mix aus Prävention und strengerer Strafverfolgung. „Es gibt unter den Jugendlichen das Narrativ der geringen Konsequenzen. Ich habe mit jemandem gesprochen, der 73 Straftaten im Jahr begangen hat und er sitzt nicht im Gefängnis.“
Gleichzeitig brauche es mehr Prävention zur Unterstützung gefährdeter Jugendlicher. „Das fängt schon im Grundschulalter an. Dazu braucht es auch Sozialarbeiter mit Sprach- und Kulturkenntnissen, die Vertrauen aufbauen können.“ Gleichzeitig müsse man auch Institutionen der islamischen Gemeinschaft hinzuziehen, auch wenn die manche kritisch sähen. „In Erlangen hat das geklappt. Durch Sprachkurse in der Moschee haben wir innerhalb von mehreren Jahren die Zahl der Gymnasiasten in einem Viertel extrem steigern können.“ Es ist ein Lichtblick seines Vortrags: Manche Mühe lohnt sich.
Info Am 10. Dezember gibt es in der Sprechbar-Reihe um 19 Uhr einen Vortrag mit Konzert zum internationalen Tag der Menschenrechte. Thema: Queer. History. Beats.