Es ist ein Alltag, der sich von dem vieler Menschen auf den ersten Blick kaum unterscheidet. Wenn Nico S. am Nachmittag von der Werkstatt-Arbeit nach Hause kommt, wäscht er seine Wäsche, räumt die Wohnung auf und sorgt einmal die Woche dafür, dass eine warme Mahlzeit für ihn und seine Mitbewohner auf den Tisch kommt. Der 39-Jährige, der mit dem Downsyndrom lebt, wohnt in einer inklusiven WG in den Räumen der Kirchheimer Lebenshilfe. Mit 23 Jahren ist er daheim ausgezogen. Auf eigenen Wunsch, wie das für die meisten in seinem Alter selbstverständlich ist. Er genießt die Heimkehr ins Elternhaus an Wochenenden und ist trotzdem stolz auf seine Selbstständigkeit in der Wohngruppe. Sie bedeutet für ihn Freiheit und ein Stück Normalität.
Um beides geht es auch bei dem, was der Gesetzgeber zum Jahresanfang auf den Weg gebracht hat, und das viele Angehörige vor hohe Hürden stellt. Hinter der Reform des Bundesteilhabegesetzes verbirgt sich ein verwaltungstechnischer Kraftakt, der zurzeit nicht nur Betroffene, sondern auch die Politik auf die Probe stellt. Verwaltungsexperten sprechen von einem Bürokratie-Monster. Dabei ist die Änderung, die seit 1. Januar gilt und zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beitragen soll, durchaus gut gemeint. Es geht um Wahlfreiheit für Behinderte bei Hilfen im Alltag, um die Trennung sogenannter Fachleistungen der Eingliederungshilfe von der Grundsicherung. Bisher wurde Geld für alltägliche Hilfen gemeinsam mit der Sozialhilfe als Pauschale an Einrichtungen wie die Lebenshilfe überwiesen. Damit war alles abgedeckt: Wohnen, Essen, Freizeit. Für Angehörige eine Erleichterung. Seit Januar sollen Empfänger frei über dieses Geld verfügen und selbst entscheiden können, wofür sie es ausgeben. Zum Beispiel für eine Begleitung für den Kinoabend, das Vereinstraining oder den Besuch im Stadion. Mehr Selbstbestimmung, mehr Individualität, unabhängig von der Wohnform, so ist das Ziel.
Die neue Freiheit hat jedoch ihren Preis, den meist die Familienangehörigen bezahlen müssen. Irmgard S. hockt über einem Berg von Papieren. Seit März vergangenen Jahres erhält ihr Sohn eine Erwerbsminderungsrente, die mit der Grundsicherung verrechnet werden muss. Sie muss einen Antrag auf Wohngeld, auf Befreiung von Zuzahlungen für Medikamente stellen, einen neuen Mietvertrag mit der Lebenshilfe abschließen, Kindergeld beantragen, Daueraufträge einrichten und nicht zuletzt: Nico sein erstes Girokonto eröffnen. „Wir gehen jetzt regelmäßig alle gemeinsam zum Automaten, um zu üben“, sagt die Mutter. Meist geht sie mit ihrem Mann auch gemeinsam zur Bank. Weil der Betreuungsvertrag auf beide lautet, sind sie nur gemeinsam geschäftsfähig. Per Online-Banking geht das nicht.
Zur Herausforderung wird der Systemwechsel auch für Politik und Verwaltung. Obwohl das Gesetz seit Januar in Kraft ist, konnten sich Land und Landkreise bisher noch über keinen Rahmenvertrag einigen, der die Finanzierung regelt. Deshalb wurde schon jetzt eine zweijährige Übergangsfrist vereinbart, die unter anderem genutzt werden soll, um mithilfe eines 18-seitigen Fragebogens in Einzelgesprächen den genauen Bedarf jedes Einzelnen zu ermitteln. Ein Bedarf, der alle zwei Jahre überprüft werden soll. Nicht nur dafür mussten im Landratsamt zuletzt sechs zusätzliche Vollzeitstellen eingerichtet werden. Christine Fischer, Leiterin des Amts für Eingliederungshilfe, ist trotzdem überzeugt, dass die Reform für Betroffene viele Vorteile bringt, wenn alles läuft. „Wir sind zuversichtlich, dass es in den Verhandlungen mit dem Land bis Jahresende ein Ergebnis geben wird“, sagt sie .
Worin Einigkeit herrscht: Die Reform soll keine Mehrkosten verursachen, was schon jetzt von den meisten bezweifelt wird. „Wenn für die neuen Assistenzleistungen ausreichend Personal gefunden wird, kann das ein großer Fortschritt sein“, meint Benjamin Langhammer von der Kirchheimer Lebenshilfe. „Die Frage bleibt nur, wie man das Ganze finanziert.“