Seit 2018 gibt es den Normenkontrollrat (NKR) Baden-Württemberg unter dem Vorsitz von Gisela Meister-Scheufelen. Ihre Amtszeit und die der fünf weiteren ehrenamtlichen Mitglieder läuft zum Jahresende aus. Nachdem einflussreiche Verbände in einem offenen Brief an Winfried Kretschmann gefordert hatten, Regulierungsstandards und Bürokratie abzubauen, schob der Regierungschef den Schwarzen Peter dem NKR zu und kündigte an, das Gremium 2023 neu aufzustellen.
Wie haben Sie die Kritik Kretschmanns empfunden? Er hatte gesagt, was der NKR geleistet habe, „war mindestens zwei Stufen zu weit unten“.
Gisela Meister-Scheufelen: Die Kritik hat uns sehr überrascht, da wir in den Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten bisher ausschließlich Zustimmung erfahren haben.
Es heißt, zwischen Ihnen und Kretschmanns Staatsminister Florian Stegmann, der eine Stabsstelle hat, die sich dem Bürokratieabbau widmet, würde es schon länger knirschen.
Meister-Scheufelen: Die Zusammenarbeit war geordnet, auch wenn wir in der Frage, ob die Folgekosten bei neuen Gesetzen für die Wirtschaft transparent gemacht werden müssten, unterschiedlicher Auffassung sind.
Gab es nach dem „Beben“ der vergangenen Tage Reaktionen von Verbänden, mit denen Sie zusammengearbeitet haben?
Wir haben viele Unterstützungsangebote erhalten, damit der NKR weiterbesteht. Wir haben aber auch Anrufe und E-Mails bekommen, in denen sich Verbände über den Stil empört haben, wie unsere Arbeit öffentlich bewertet wurde.
Der NKR soll nun völlig neu aufgestellt werden. Welche Pläne haben Sie für sich?
Ich habe eine Reihe von Mandaten, die mich in Anspruch nehmen und ich werde an dem Thema, wie der Mittelstand von unnötigen Belastungen befreit werden kann, weiterarbeiten. Unternehmen ersticken an bürokratischen Anforderungen, und die Genehmigungsverfahren dauern zu lang. Diese Bremse müssen wir im Interesse der Zukunft unseres Landes lösen. Nur so kann auch der Klimawandel bekämpft werden.
Müssen Sie sich vorwerfen lassen, zu wenig Vorschläge zum Bürokratieabbau gemacht zu haben, oder mangelte es an der Umsetzbarkeit? Sie haben 160 konkrete Vorschläge gemacht. 60 davon hat das Land umgesetzt.
Am Montag haben wir der Landesregierung – sozusagen als Abschiedsgeschenk – noch einen Bericht mit 20 Empfehlungen zur Vereinfachung von Landesförderprogrammen überreicht. Damit summieren sich unsere konkreten und umsetzbaren Vorschläge auf 180.
Wie bewerten Sie das, was die Landesregierung daraus gemacht hat?
Die Landesregierung hat sich sehr bemüht. Sie hat sich vorgenommen, 200 bis 500 Millionen Euro an Bürokratiekosten bis 2026 für die Wirtschaft und die Bürger abzubauen. Das geht aber nur durch ein Entlastungsgesetz, das Maßnahmen enthält, die sofort wirken.
Was ist für Sie der Kern der Überbürokratisierung?
Unsere mittelständischen Unternehmen müssen ständig dokumentieren, nachweisen, kontrollieren. Dahinter steckt auch, dass sie dem Staat Kontrollpflichten abnehmen. Die Behörden sind personell nicht in der Lage zu kontrollieren, ob die Gesetze eingehalten werden.
Wo liegen die Gründe für die ausufernde Bürokratie?
Das ist die wichtigste Frage. Nur wenn man die Gründe kennt, kann man an der Lösung arbeiten. Ein wesentlicher Grund für zu detaillierte Vorschriften und zu lange Genehmigungsverfahren ist zweifellos die Komplexität der Rechtsthemen. Wir nehmen die Gesetze in Württemberg traditionell besonders genau. Hinzu kommt: Der Staat misstraut den Bürgern und den Unternehmen und geht davon aus, dass sie sich nicht an das Gesetz halten. Aber wenn der Staat dem Bürger misstraut, wie soll er dann erwarten, dass der Bürger ihm vertraut? Die Überbürokratisierung gefährdet die Demokratie, weil viele sagen, in autokratischen Länder geht es viel schneller.
Liegt das Zuviel an Bürokratie auch an einem zu großen Sicherheitsdenken?
Absolut. Vor allem nach Unfällen werden Vorschriften erlassen, die den Vorfall möglicherweise nicht einmal verhindert hätten. Es gibt immer wieder neue Gesetze, weil die Politik neue Herausforderungen bewältigen muss. Vorschriften, die man nicht mehr braucht, müssen aber abgebaut werden. Das passiert zu wenig.
Man hat den Eindruck, dass sich aktuell Dinge bewegen, die nicht realisierbar erschienen. Stichwort Windkraft.
Krisen sind Phasen, in denen Reformen passieren. Der Landesregierung ist klar geworden, dass die Bekämpfung des Klimawandels schon an der Bürokratie scheitert, weil Verfahren zu lange dauern. Innerhalb kurzer Zeit hat der Landtag das Widerspruchsverfahren bei der Genehmigung von Windrädern abgeschafft. Das hatten wir empfohlen. Durch den Wegfall des Widerspruchsrechts verkürzt sich das Verfahren um zwölf Monate. Auch im Bund gab es den Effekt: Dank des Beschleunigungsgesetzes konnten zügig Flüssiggasterminals errichtet werden.
Was sind die Folgen von zu viel Bürokratie für die Wirtschaft?
Ausländische Investoren springen ab, weil Genehmigungsverfahren zu lang sind. Unsere Unternehmen halten Investitionen zurück und überlegen, ob sie im Ausland investieren. Der Wettbewerbsnachteil gefährdet den Standort Baden-Württemberg. Mittelständler und Vertreter des Handwerks sind teils außer sich und stellen fest, dass der Staat sie eher daran hindert, zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen, und ihnen das Leben schwer macht.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Lebensmittelkontrolle fordert von manchen Bäckern tägliche, schriftliche Dokumentationen, ob die Temperatur bei der Lagerung von frischen Lebensmitteln eingehalten wird. Selbst wenn ein Bäcker ein modernes Kühlgerät hat, das Temperaturprotokolle auswirft und Warnsignale abgibt. Ein Bäcker sagte mir, wenn sein Handy klingelt, ist das entweder ein Kunde, seine Frau oder sein Eisschrank (lacht). Inzwischen hat das zuständige Ministerium diese Praxis abgestellt.
Steckt hinter der Pflicht eine EU-Regel?
Die EU schreibt meist nur Ziele vor oder Eigenkontrolle. Was soll der Bäcker sonst tun, als ein modernes Gerät kaufen? Wir machen eine schriftliche Dokumentationspflicht draus. Unser Rechtsverständnis ist ganz anders als das der EU. Deshalb tun sich andere Länder viel leichter mit dem Umsetzen von EU-Recht als wir.
Hilft Digitalisierung beim Bürokratieabbau?
Sie ist eine Voraussetzung, aber sie reicht nicht. Digitalisierung erleichtert erst, wenn wir ‚Once only‘ umsetzen.
Das heißt ...
… dass ich Daten nur einmal einer Behörde abgeben muss. Mit meiner Einwilligung – der Datenschutz steht dem nicht entgegen – kann diese Behörde oder eine andere auf die Daten wie Name oder Firmensitz zugreifen. Von diesen ‚Once only‘-Lösungen sind wir noch weit entfernt.
Können Sie erklären, woran das liegt?
Die Prozesse sind noch nicht digitalisiert. Wenn Ihr Auto, das im Landkreis Esslingen zugelassen ist, im Kreis Göppingen angemeldet werden soll, kann auf die Daten bei der Kfz-Stelle nicht zugegriffen werden. Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet, dass die Register ‚miteinander sprechen‘ können. In Baden-Württemberg sind wir an der Spitze bei der Umsetzung.
Sind da andere Länder Vorbilder?
Finnland, Dänemark und Schweden kriegen das hervorragend hin. Österreich ist uns mindestens zehn Jahre voraus. Die haben zentrale Register oder bereits Registerzugriffe technisch eingerichtet.
Das aufwendige Ausfüllen von Formularen ist das eine. Das unverständliche Juristendeutsch das andere, was für Unmut sorgt.
Das ist hochspannend. Bürgerinnen und Bürger und Vertreter der Wirtschaft sagen, sie verstehen nicht, was die Behörden von ihnen wollen. Wir haben mehrere Seminare angeboten zur besseren Verständlichkeit der Behördensprache. Das Interesse war riesig.
Warum machen es Behörden so kompliziert?
Dass sich Beamtinnen und Beamte so ausdrücken, hat mit Juristerei und dem Rechtsstaat zu tun. Der Beamte nimmt sich als Person total zurück. Man will jede Umgangssprache vermeiden, weil dadurch die Verpflichtung nicht mehr deutlich wird. Das heißt nicht, dass man es nicht auch verständlich ausdrücken kann. Das ist eine kulturelle Frage. Wir haben erreicht, dass die Verwaltungshochschulen in Ludwigsburg und Kehl die Verständlichkeit der Behördensprache als Pflichtmodul eingeführt haben, und wir bilden Ministerien fort. Ein Softwareprogramm zeigt ihnen bei neuen Gesetzestexten an, ob sie Substantive, Schachtelsätze oder Fremdworte drin haben. Wir müssen das Ganze in die Köpfe bringen. Juristen sollten an der Uni lernen, wie sie ein gutes Gesetz schreiben.
Modell für andere Länder
Der Normenkontrollrat Baden-Württemberg ist ein unabhängiges Expertengremium, das die Landesregierung unterstützt, Bürokratie abzubauen und damit die Wettbewerbsfähigkeit
zu stärken. Dem NKR gehören neben Gisela Meister-Scheufelen fünf ehrenamtliche Mitglieder
an, die Erfahrung in Rechtssetzungsangelegenheiten in staatlichen oder gesellschaftlichen
Institutionen mitbringen und Kenntnisse in wirtschaftlichen Angelegenheiten
haben. In Sachsen gibt es seit 2016 einen NKR. 2018 nahm der NKR Baden-Württemberg seine Arbeit auf, zu Jahresbeginn 2022 der NKR Bayern. Anfang Dezember kam der NKR Thüringen hinzu. „So schlecht kann unsere Arbeit nicht gewesen sein“, sagt Gisela Meister-Scheufelen dazu. „Mit Sachsen haben wir ein gewisses Modell für andere Länder abgegeben.“
Unter dem Titel „Wie kann die Verständlichkeit behördlicher Texte verbessert werden?“ hat der NKR
Baden-Württemberg 2019 eine Handreichung für die öffenliche Verwaltung im Land erarbeitet. Sie dient etwa bei Fortbildungen von Ministerien als Seminargrundlage. 2022 hat Dr. Gisela Meister-Scheufelen mit Professor Volker Haug das bei Kohlhammer erschienene „Praxishandbuch
Gute Rechtssetzung“ herausgegeben.
Gisela Meister-Scheufelen war von 1996 bis 2000 CDU-Abgeordnete des Landtags von Baden-Württemberg im Wahlkreis Kirchheim. Anschließend bekleidete sie das Amt der Staatssekretärin für
Wirtschaft und Technologie im Land Berlin. Von 2002 an war sie Präsidentin des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Im Anschluss daran wurde Gisela Meister-Scheufelen Ministerialdirektorin und Amtschefin des Finanzministeriums Baden-Württemberg. 2012 wurde sie Kanzlerin der Dualen Hochschule Baden- Württemberg, bevor sie zur Vorsitzenden des Normenkontrollrats berufen wurde. Die 66-Jährige Juristin lebt in
Lenningen. ank