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Mietshaus gegen Wohnungsnot:Die „Mittelstraße 16“ ist überall

Zeitgeschichte Das neueste Werk der Kirchheimer Autorin Iris Lemanczyk ist ein Streifzug durch das Leben heutiger Großeltern bis hin zu ihren Enkeln. Es geht um ein typisch deutsches Haus und seine Bewohner im Wandel der Zeit. Von Irene Strifler

Am Anfang war die Wirtschaftskrise. „Am 1. März 1923 kostet ein Liter Milch in Stuttgart schon 680 Mark, aber am 14. November ist der Preis auf unfassbare 44 Milliarden Mark gestiegen“, beschreibt Iris Lemanczyk in ihrem Buch „Mittelstraße 16“ die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Rentenmark und Goldpfennige normalisieren die Situation, am 17. November 1923 kostet der Liter Milch 30 Goldpfennige. Die Wirtschaft nimmt Fahrt auf, in den Städten entstehen Arbeitsplätze. Gleichzeitig steigt Stuttgart zu den teuersten Großstädten Deutschlands auf, es herrscht enorme Wohnungsnot. Und hier kommt der Architekt Max Mueller ins Spiel, der Mann, der das Mietshaus Mittelstraße 16 gebaut und vielen Familien ein Dach über dem Kopf gegeben hat. Das Mietshaus gehört heute noch seinen Nachkommen und bietet vielen Mietern Platz, darunter auch Iris Lemanczyk selbst.

„Ich wollte schon lange über dieses Haus schreiben“, sagt die gebürtige Kirchheimerin. Doch es dauerte mehrere Jahre, bis sie den richtigen Ansatz gefunden hatte. Dabei liegt die Lösung für die gelernte Journalistin, die bei der Göppinger NWZ ihr Volontariat gemacht hat, so nahe: Es sind die Menschen mit ihren persönlichen Geschichten, die dem Haus und dem Buch Leben einhauchen. Immer wieder springt die Autorin in verschiedenen Epochen in die einzelnen Wohnungen, die teils von Generationen derselben Familie bewohnt werden.

Da ist zum Beispiel Gottlieb Wagner, der im neuen Mietshaus einen Laden betreibt und Gemischtwaren an den Mann bringt. Eine Neuigkeit reißen ihm die Kinder geradezu aus den Händen: die Gummibärchen, die soeben ein Hans Riegel aus Bonn erfunden hat und unter dem Namen Haribo vertreibt.

In den 50er Jahren, als Heimatvertriebene und Flüchtlinge den Wohnungsdruck erhöhen und es auch in der Mittelstraße 16  eng wird, hat Wagners Tochter Emma Wellinger den Laden übernommen –  die Männer der Familie sind „im Krieg geblieben“, wie es damals hieß. Emma verwaltet zunächst nur den Mangel der Nachkriegsjahre. Den neu entstehenden Geschäften mit Selbstbedienung räumt sie keine Chance ein, schließlich wollten die Leute doch beraten werden.

Gemischtwarenladen hatte keine Chance

Im Kapitel „In den 70er Jahren“ erfährt man jedoch, dass es der Gemischtwarenladen war, der keine Chance hatte: „Irgendwann sind so wenig Leute in den Laden gekommen, dass sie die Miete nicht mehr zahlen konnte“, berichtet die zwölfjährige Schülerin Petra über ihre Oma, die jetzt beim Edeka an der Kasse sitzt.

Beim Streifzug durch die Geschichte des Hauses erfährt man auch viel über die anfangs gar nicht vorhandene Kanalisation, die zunehmende Luftverschmutzung oder die Anti-AKW-Bewegung. Auch Hansi Müller und Daktari sind ein Thema in den Begriffserklärungen, die den jeweiligen Kapiteln nachgeschaltet sind. Vieles ist nämlich heute tatsächlich vergessen. Nur noch die Älteren erinnern sich daran und werden ihre Freude haben, auch wenn sie selbst nicht in Stuttgart, sondern in einer anderen Stadt aufgewachsen sind. Für die Jüngeren ist es lebendiger Geschichtsunterricht.

„Die Mittelstraße gibt es überall“, sagt Iris Lemanczyk. Der rote Faden für die studierte Geografin ist die über alle Jahrzehnte hinweg präsente Wohnungsnot, flankiert von einer im Industriezeitalter stets spürbaren Umweltbelastung im Stuttgarter Kessel. Speziell der Geschichte des Wohnens widmet die 58-Jährige zum Abschluss ein eigenes Kapitel – kurz und knapp, so wie auch die Wohnungsbewohner streiflichtartig begleitet werden. Das Buch teilt sich dadurch in angenehme kurze Häppchen auf und ist sehr lesefreundlich.

Man kennt sich trotz Verfremdung

Ein Teil der Hausbewohner, die in einer „tollen Gemeinschaft“ leben, wie die Kirchheimerin schwärmt, wird sich wohl trotz aller Verfremdung erkennen. Auf jeden Fall sind es Charaktere, wie man sie überall treffen kann. Mit allen hat die Autorin lange Gespräche geführt und ausführlich in Archiven gewühlt.

Besonders hilfreich waren die Treffen mit den jetzigen Besitzern, Max Muellers Enkeln. Als Architekten haben sie nicht nur alle Pläne aufgehoben, sondern auch zahlreiche Mietverträge und andere aussagekräftige Schreiben aus dem Jahrhundert des Bestehens der Mittelstraße 16. Ihr Opa war einst froh, einen Bauplatz im neuen Wohnquartier „Heusteig“ ergattert zu haben, denn schließlich waren die Wiesen und Obstgärten gerade erst Bauland geworden, die Straßen hatten noch Schotterbelag. Dass ein Buch, erschienen im Horlemann-Verlag, einst seinem stattlichen Mietshaus ein literarisches Denkmal setzen würde, hätte ihn gefreut.