Lenninger Tal
„Misteln bringen Obstbäume in Stress“

Plage Der Befall der Streuobstwiesen mit dem Halbschmarotzer nimmt zu. Betroffen sind vor allem Apfelbäume. Der Hauptgrund für die Ausbreitung ist die nachlassende Pflege. Von Anke Kirsammer

Im Kreis Esslingen, fast im gesamten schwäbischen Streuobstparadies, sind Misteln auf dem Vormarsch. Das sagt der Fachberater für Obst- und Gartenbau im Landratsamt, Jens Häußler. Der Teckbote hat mit ihm über Ursachen und Lösungen gesprochen.

Wo genau gibt es im Kreis Esslingen derzeit starken Mistelbefall?

Jens Häußler: Es lässt sich eher sagen, wo es weniger bis kaum Mis­teln gibt. Das sind vor allem Bereiche auf dem Schurwald oder auch Richtung Neidlingen und Weilheim. Ansonsten kommt die Mistel überall häufig vor.

Offenbar gibt es auch in Gutenberg keine Misteln. Der Befall zeigt sich nur talabwärts. Liegt das an der Temperatur?

Häußler: In Gutenberg gibt es meines Wissens etwas weniger Streuobstwiesen als talabwärts. Hier gibt es also weniger Bäume, die befallen werden können. Eventuell werden die wenigen Bestände auch noch gut gepflegt. Das könnten Gründe sein. Auch könnte es am Klima des Tals liegen, dass es dort für Misteln oder die für die Verbreitung verantwortlichen Vögel weniger attraktiv ist. Das sind aber alles Spekulationen.

 

Mittlerweile sind auch junge Bäume betroffen.
Jens Häußler

 

Wie wirkt sich die zurückgehende 
Pflege von Streuobstwiesen aus?

Häußler: Das ist der Hauptgrund für die Zunahme des Befalls. Hotspots sind Flächen, wo die Bäume schon länger nicht gepflegt wurden. Früher wusste jeder Obstbauer, die Mistel schadet meinem Baum, also schneide ich sie bei der Baumpflege mit raus. Auch wurden alte Bäume, die früher von der Mistel hauptsächlich befallen waren, durch Jungpflanzen ersetzt. Da immer weniger Bäume regelmäßig geschnitten werden und auch alte Bäume mit großen beerentragenden Mis­teln lange stehen bleiben, nimmt der Druck auf die Obstbäume zu.

Werden denn auch junge Bäume befallen?

Früher waren vor allem alte und schwache Bäume betroffen, mittlerweile sind auch auf jüngeren Bäumen Misteln zu finden. Es sind einfach eine Menge Mistelbeeren im Umlauf. Damit ist auch das Infektionsrisiko höher.

Was genau passiert eigentlich mit dem Baum, wenn er von Misteln befallen ist?

Die Mistel dringt mit ihren Senkwurzeln in die Leitungsbahnen des Asts beziehungsweise Baums ein und greift sich dort die Nährstoffe ab, die der Baum zur Photosynthese an die Blätter transportiert. Die Mistel kann selbst Photosynthese betreiben, bezieht vom Baum aber die Nährstoffe und vor allem das Wasser.

Dann waren die heißen Sommer sicher ein zusätzliches Problem.

Ist es heiß und trocken, reduziert der Baum die Photosynthese und transpiriert weniger Wasser über die Blätter. Die Mistel hingegen tut das nicht und verdunstet weiterhin Wasser, dadurch kommen die Bäume zusätzlich in Trockenstress. Ein weiterer Faktor ist, dass die Wind- und Schneebruchgefahr der Bäume zunimmt. Ein mit Misteln befallener Baum hat im Herbst und Winter eine viel größere Angriffsfläche für Wind und Schnee als ein kahler, mistelfreier Baum. Auf lange Zeit stirbt der Baum ab, entweder durch das Brechen der Äste oder die fehlenden Nährstoffe und Wasser.

Warum befallen Misteln unter den Obstbäumen nur Birn- und Apfelbäume?

Es werden bei uns fast ausschließlich Apfelbäume befallen. Andere Obstbäume verfügen oft über einen besonderen Schutzmechanismus gegen Misteln. Beim Befall mit einem Mis­telsamen stirbt bei anderen Bäumen das Gewebe im Umkreis der Keimungsstelle ab. Dadurch hat die Mistel keine Chance, in den Ast einzudringen. Mittlerweile gibt es aber auch Fälle auf Birnbäumen. Ansonsten kommt die Mistel auf ziemlich vielen Bäumen vor. Man denke etwa an die gro­ßen Weiden an Bachläufen oder Ahornbäume und Linden in Alleen. Auch hier wird sie in den nächsten Jahren weiter zunehmen.

Wie vermehren sich Misteln beziehungsweise wie „wandern“ sie von einem Baum auf den anderen?

Viele Vögel, die seither kurze Strecken gezogen sind, bleiben mittlerweile hier und ernähren sich von den Beeren im Winter. Dadurch werden die Samen von Baum zu Baum weitergetragen und verbreitet. Entweder sie durchwandern vorher den Verdauungstrakt des Vogels oder der Vogel streift sie beim Reinigen des Schnabels am Ast ab. Oft beginnt der Befall an einem Baum in der Krone, dort, wo die Vögel ihren Ansitz haben. Wächst dort eine Mistel, fallen die reifen Beeren auch von oben auf untere Teile des Baumes. Dort keimen sie ebenfalls und der Baum ist irgendwann voller Misteln.

 

Misteln auf Laubgehölzen stehen nicht unter Naturschutz.
Jens Häußler

 

Was sollte man bei einem Mistel­befall unternehmen?

Die Mistel sollte entfernt werden. Je nach Lage der Mistel im Baum gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen. Sitzt die Mistel außen an einem Ast, sollte bis ins gesunde Holz zurückgeschnitten werden, also mindestens 20 Zentimeter. So kann man sichergehen, dass die Senkwurzeln mit entfernt sind und aus ihnen nicht an der Schnittstelle weitere Misteln austreiben.

Und wenn sie an einem dicken Ast, am Leitast oder am Stamm sitzt?

Dann sollte die Mistel ausgebrochen werden. Hier ist ein komplettes Entfernen nicht möglich, ohne dem Baum zu schaden. Bricht man die Mistel aus, dauert es mindestens wieder vier Jahre bis die Mistel blüht und erneut Früchte trägt. Bis dahin geht von ihr keine Gefahr für weitere Bäume aus. Ist ein Baum zum großen Teil oder komplett mit Misteln befallen und stirbt schon ab, sind das Roden und die Neupflanzung oft die einzige Möglichkeit.

Ein Problem sind ja ganz offensichtlich Bäume, um die sich niemand kümmert. Gibt es da eine Möglichkeit, dass Fremde die Misteln dort entfernen?

Nein. Das Schneiden und Pflegen von fremden Bäumen ist nicht erlaubt.

Tun denn die Kommunen etwas gegen den Mistelbefall?

Das Thema wird die nächsten Jahre zunehmen und ein fester Bestandteil in der Streuobstwiesenpflege werden. Zahlreiche Städte und Gemeinden machen schon auf das Problem aufmerksam und werben für ein Entfernen der Misteln. Oft passiert aber auf den kommunalen Stücken selbst nichts, sodass viele Bewirtschafter sagen: Warum soll ich bei mir die Misteln entfernen, wenn es die Kommune selbst nicht auf die Reihe bekommt?

Es hält sich das Gerücht, dass Misteln unter Naturschutz stehen.

Es gibt zwar Misteln auf Nadelbäumen, auf die das zutrifft, nicht aber auf die Misteln bei uns auf Laubgehölzen.

Viele hängen sich Misteln zur Deko an die Haustüre. Trägt das nicht zur Verbreitung bei?

Im Gegenteil. Die Mistel ist von der Wiese und wird nach der Deko entsorgt. Mann sollte sie allerdings in die Bio-Tonne oder auf den Schnittgutplatz bringen. Sie hinterm Haus auf den Kompost zu legen, ist eine schlechte Idee, da die Gefahr besteht, dass sich Vögel an den Beeren bedienen.

 

Weitere Infos gibt es im „Mistel-Flyer“ des Landratsamts Esslingen. Er kann im Internet heruntergeladen werden unter
www.landkreis-esslingen.de

 

Die Bäume sind auch im Winter grün

Vertreter der Obst- und Gartenbauvereine im Lenninger Tal monieren, dass Misteln um sich greifen.

Bäume, deren braune knorrige Äste dicht an dicht in alle Himmelsrichtungen ragen, dazwischen wuchert es grün – immer mehr Streuobstbäume auch im Lenninger Tal kämpfen mit Misteln. „Das Problem haben wir schon lange, aber in den vergangenen Jahren verstärkt es sich“, sagt der langjährige Vorsitzende des Obst- und Gartenbauvereins (OGV) Brucken, Rainer Klingler. Bei Schnittunterweisungen wird deshalb darauf hingewiesen, wie wichtig das Entfernen der Halbschmarotzer ist.

Mit zunehmender Sorge sieht Rainer Klingler, dass sich Misteln ungebremst verbreiten. „Im Winter sind viele Bäume inzwischen grün“, sagt er. „Nicht, weil sie Laub haben, sondern wegen der Misteln.“ Auch die Vorsitzenden der anderen Obst- und Gartenbauvereine im Lenninger Tal beklagen das Problem. Ausgenommen sind Schlattstall und Gutenberg. „Der Befall beginnt ab der Grabenstetter Steige“, sagt der Vorsitzende des OGV Gutenberg, Hermann Wolfer. Eine Erklärung dafür haben weder er noch der Fachberater für Obst- und Gartenbau im Kreis Esslingen, Jens Häußler.

Der Grund für die rasante Ausbreitung der Misteln liegt für Rainer Klingler klar auf der Hand: Die heute 80-Jährigen und Älteren hätten die Obstbäume besser gepflegt als die nachwachsenden Generationen. Jüngere fühlten sich zum Leidwesen der benachbarten Wiesenbesitzer häufig nicht mehr zuständig. „Ich mache die Misteln ab, wenn sie erst fünf Zentimeter groß sind“, sagt Rainer Klingler. Besonders für junge Bäume sei es hilfreich, sie bereits im kleinen Stadium zu entfernen. Als Besitzer von rund 60 Bäumen, davon ungefähr die Hälfte Apfelbäume, hat er mit der Pflege gut zu tun. „Wir wollen die Leute wachrütteln“, so der 65-Jährige. „Die riesigen Mis­teln verärgern diejenigen, die die Bäume pflegen und die Obst ernten wollen.“ In den 1950er- Jahren seien Misteln auf Obstbäumen ein No-Go gewesen. Damals habe der Feldschütz die Wiesenbesitzer bei einem Befall angeschrieben.

Jens Häußler hat zwei positive Beispiele, die zeigen, was gegen den Mistelbefall getan werden kann: So hat die Stadt Owen 2018 und 2019 dazu aufgerufen, Misteln zu schneiden und am Bauhof abzugeben. Die Kindergärten verkauften sie bei „Owen leuchtet“ für den guten Zweck. In Nürtingen wurden vor einigen Wochen Besitzer von Bäumen mit vielen Misteln angeschrieben. Abgefragt wurde dabei, warum die Wiese beziehungsweise die Bäume nicht mehr gepflegt werden. Und die Stadt hat über das Förderprogramm des Landkreises Hochentaster angeschafft, die dort ausgeliehen werden können, um Bäume zu schneiden. Anke Kirsammer