Zwischen Neckar und Alb
Mit 69 Jahren noch mal büffeln gehen

Bildung 30 Jahre lang unterrichtete Manfred Lindner aus Denkendorf an Berufsschulen – ohne Abitur. Mit knapp 70 hat er das jetzt mit viel Fleiß und Wissbegierigkeit nachgeholt. Von Pia Hemme

Während sich andere 66-Jährige in ihrem Ruhestand eine Harley anschaffen, trainieren gehen oder den Jakobsweg beschreiten, wollte Manfred Lindner noch einmal die Schulbank drücken. Der heute 69-Jährige ist pensionierter Berufsschullehrer, aber ohne Abitur. Der Denkendorfer hat den Abschluss drei Jahre lang am Abendgymnasium Esslingen nachgemacht - und mit einer guten Zwei bestanden. Sogar einen Preis im Fach Physik hat er abgestaubt. „Vor den Prüfungen hab’ ich Bammel gehabt, ich hab’ gekämpft“, gibt Lindner zu. Es hat sich aber gelohnt: Beruflich kann er zwar nichts mehr damit anfangen, aber persönlich hat es ihn bereichert: „Ich habe Freude am Lernen und an Neuem. Ich konnte mein Wissen auffrischen, vertiefen und neues Wissen erwerben.“

Alles erreicht - ohne Abitur

Lindner hatte eigentlich alles erreicht, was er wollte: Er ist gelernter Kfz-Schlosser bei Porsche und durfte nach damaliger Regelung mit einem Realschulabschluss und einem Industriepraktikum an der Ingenieurschule Kraftfahrzeugtechnik sowie Maschinenbau an der Uni studieren. Er war sechs Jahre lang in der Bosch Kundendienstschule in Wernau beschäftigt, ist verheiratet, hat drei Kinder und gab sein Wissen als Berufsschullehrer an junge Menschen weiter.

Nach fast 30 Jahren Lehrerlaufbahn kam dann die Pension und der „Unruhestand“, erzählt er. Nur herumzusitzen, das ist nichts für ihn. Lindner renovierte sein Haus und arbeitete als Vertretungslehrer in Physik an der Albert-Schweitzer-Schule in Denkendorf. „Da hatte ich wieder eine sinnvolle Aufgabe“, erinnert sich Lindner. Und nach dem Jahr war ihm klar: Irgendwas Sinnvolles müsse er noch in Angriff nehmen. „Was hatte ich seither für ein tolles Leben, irgendwie lief alles rund - Gott sei Dank“, erinnert sich Lindner. „Doch eines hatte ich eben nicht: das Abitur.“ Der Gedanke ließ ihn nicht los, seine Neugier war geweckt: Wie ist es denn eigentlich so auf einem Gymnasium? So entschied er sich dafür, sein Abitur nachzuholen. Tagsüber unterrichtete er ein paar Stunden Physik an der Freien Evangelischen Schule, abends wechselte er die Perspektive und ging drei Jahre lang aufs Georgii-Gymnasium: vier Mal pro Woche von 17 bis 21.30 Uhr.

Der Pensionär war hoch motiviert, das Abi zu machen. Er wollte aus beruflichem Interesse „etwas für sich tun“ und „sich geistig fit halten“. Seine besondere Vorliebe für deutsche Literatur, französische Sprache und Physik motivierte ihn ebenso. „Auf dem Abendgymnasium gab es auch ein breites Angebot. Samstags hab’ ich dann noch die Kurse Philosophie und Psychologie absolviert“, erzählt er. Vom Abendgymnasium ist Lindner begeistert: „Es waren die schönsten Schuljahre meines Lebens. Top Schulleitung, top Sekretariat, und so nette und vor allem menschliche Lehrer. Die hätten sogar einem Esel das Lesen beigebracht.“ Nach 30 Jahren als Lehrer wieder Schüler gewesen zu sein, war für Lindner kein Problem. Auch nicht, mit Jüngeren das Abitur zu machen. „Ich war diesmal der Lernende und Suchende“, sagt Lindner. „Ich habe mich darauf eingelassen und die Rolle akzeptiert.“ Das Klima sei „sehr angenehm“ gewesen. Man habe sich gegenseitig geholfen, auch mal Manuskripte ausgeliehen. „Es war einfach mal schön, auf dem Gymnasium gewesen zu sein.“

Lindners Ehrgeiz hat ihn angetrieben: „Ich bin nicht der Klügste, aber ich dachte mir, dass ein Schnitt von Zwei machbar ist. Dafür muss man auch etwas tun.“ Er hat sich Sekundärliteratur besorgt und wenn er morgens aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, löste er Matheaufgaben oder lernte Vokabeln. „Als meine Frau das mitbekam, war sie schon etwas verwundert“, schmunzelt Lindner.

Mathe, Deutsch, Physik und Französisch zählten zu seinen Lieblingsfächern, erzählt der 69-Jährige. Nur mit Englisch hatte er etwas Schwierigkeiten. „Als ich damals zur Schule ging, hatten wir das noch nicht gelernt. Natürlich kann ich mich auf Englisch unterhalten, zum Beispiel im Urlaub. Aber ein paar Mitschüler waren längere Zeit im Ausland und konnten das natürlich besser.“

Auch wenn er seinen gewünschten Zweier-Schnitt erreichte, einfach war es nicht: „Es ist schwer, Sachen im Kopf zu behalten und lange zuzuhören“, sagt er. Das Abitur habe ihm aber viel gebracht. „Mein Motto lautet: ‚Wer weiß, der sieht’, und ich habe viel dazugelernt.“ Es ist in seinen Augen zudem schlecht, nicht zu wissen, was man nach seinem Berufsleben machen will. Deshalb sein Tipp: „Einfach vitale 80-Jährige fragen, was sie tun würden, wenn sie wieder 70 wären. Das hat mir geholfen.“