Feras Byirouti steht mit verschränkten Armen in seinem Laden und starrt durch das Schaufenster auf die Straße. Aus den Lautsprechern hinter ihm tönt arabische Musik, es riecht nach Rosenwasser und Zucker. Er trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und eine weiße Kochmütze, mit der er wie die Karikatur eines französischen Kochs des vergangenen Jahrhunderts aussieht. Lediglich die Trikolore auf dem Kragen fehlt, um sich zumindest äußerlich in die Reihe von Ikonen wie Bocuse, Troisgros und Point einzureihen. Doch Byirouti steht nicht in Lyon. Vor ihm blubbert kein Wildjus in einem Kupfertopf. Nein, er steht in Nürtingen, umgeben von Baklava.
„Möchtest du einen Kaffee?“, fragt Byirouti zur Begrüßung: „Wenn du willst, mach ich auch den Sand an.“ Er deutet auf das traditionelle arabische Mokka-Set in der Ecke: „Aber wir können erst einmal ein bisschen reden. Bis das heiß ist, dauert es etwas.“
Seit Ende des vergangenen Jahres betreibt Byirouti in der Marktstraße in der Nähe des Rathauses einen kleinen Laden für arabische Süß- und Backwaren. Sein Geschäft eröffnete er mitten in der Pandemie - das führte damals bei vielen seiner Bekannten zu Kopfschütteln. „Ich bin mir derzeit auch nicht mehr so sicher, ob das die beste Idee war“, sagt Byirouti und lacht: „Die Leute brauchen immer etwas Zeit, um Vertrauen zu etwas Neuem zu schöpfen. Allerdings kann man sich derzeit ja gar nicht an mich gewöhnen, da niemand in der Stadt ist.“ Während eines Lockdowns den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen - das wäre für die meisten ein viel zu großes Risiko. Doch für Feras Byirouti war es ein logischer Schritt, ja sogar eine Notwendigkeit.
Geboren und aufgewachsen ist er in Damaskus, der Hauptstadt von Syrien. Bereits dort arbeitete er als Bäcker, aber auch als Schneider. „Wir hatten sogar eine eigene Firma“, erzählt Byirouti. Doch dann begann 2011 der verheerende Bürgerkrieg in seiner damaligen Heimat. „Alles wurde zerstört. Auch die Firma, unser Lebenswerk“, sagt Byirouti. Er beschloss zu fliehen. Wie viele andere in der damaligen Zeit, wollte er sein Glück in Deutschland finden.
Nach einer nervenaufreibenden Zeit erreichte er 2015 endlich die Grenze. Er glaubte angekommen zu sein, doch es folgte eine zwölfmonatige Odyssee: München, Heidelberg und Karlsruhe waren nur einige der Stationen auf seinem Weg. 2016 kam er in Nürtingen an, dem bisherigen Ende seiner Reise. „Ich liebe die Stadt. Sie ist nicht zu klein, nicht zu groß und die Menschen sind offener als in den meisten Städten, in denen ich vorher war“, sagt der 26 Jährige.
Doch kaum in Nürtingen angekommen, stand er vor der nächsten Herausforderung: Die Arbeitssuche erwies sich als wenig aussichtsreich. Weder über das Arbeitsamt noch durch private Kontakte fand er eine Anstellung. „Es war unheimlich schwer zu Beginn meiner Zeit hier. Dabei wollte ich mir doch nur selbst ein Leben in Nürtingen aufbauen“, erzählt Byirouti.
Eines Tages schien er kurz vor dem Ziel zu stehen: Ein Unternehmen lud ihn zu einem Probetag ein. Der Geschäftsführer sagte ihm persönlich, dass er perfekt für die Stelle sei. „Sie boten mir eine Festanstellung an, ich war im siebten Himmel. Doch dann hieß es, vorher müsse ich fünf Wochen ohne Bezahlung probearbeiten“, erinnert er sich. Da sei ihm klar geworden: So geht es nicht weiter. Um endlich Fuß fassen zu können, müsse er sich selbstständig machen.
Gemeinsam mit einem Freund kam ihm die Idee eines Süßwarengeschäfts. Das Fachwissen hatte er bereits in Syrien erlernt und in der Nürtinger Innenstadt waren gerade geeignete Räume frei geworden. Gemeinsam wagten sie es. In den folgenden Wochen steckte Byirouti sein gesamtes Herzblut in das Geschäft. Mit wenigen Mitteln renovierte er eigenhändig den gesamten Laden und gestaltete die Inneneinrichtung nach seinen Vorstellungen. Er brachte ein großes Leuchtschild an der Außenfront an und taufte die künftige Arbeitsstätte. „Der Laden ist benannt nach meiner Heimat, nach meinen Wurzeln. ,Al Shami‘ bedeutet ,aus Damaskus‘“, erklärt Byirouti. Sonntags fährt er zu einem Freund nach Ludwigsburg, um zu backen
Das Geschäft war eröffnet, der Beginn der Selbstständigkeit geschafft. Doch schon nach einigen Wochen wurde klar: Zwei Personen würden mit den Gewinnen des Ladens nicht über die Runden kommen. Byirouti und sein Geschäftspartner waren am Boden zerstört. „Ich habe lange mit mir gerungen. Doch am Ende habe ich gesagt, dass ich den Laden alleine übernehmen werde und meinem Freund seinen Anteil in Raten auszahle. Ich werde ihm immer dankbar sein für alles, was er für mich getan hat. Leute, die mir helfen, vergesse ich nicht“, sagt Byirouti.
Doch selbst für eine Person ist es schwer, von dem Laden zu leben. Seit Monaten hatte er nicht einen Tag frei. Jeden Sonntag muss er in den Morgenstunden aufstehen, sich ein Auto leihen und nach Ludwigsburg fahren. Dort darf er die Küche eines Bekannten nutzen, um seine Baklava zu backen. Dann packt er alles wieder ein, fährt nach Nürtingen, gibt das Auto ab und steht Montagmorgen pünktlich in seinem Geschäft. Auch dort hätte er eine Küche. Doch das Gesundheitsamt habe ihm noch nicht die Erlaubnis erteilt, dort zu backen, sagt Byirouti.
„Es ist schon mühselig und ich habe bisher noch nicht einen Euro für mich verdient. Doch ich glaube an den Laden und möchte einfach nur, dass die Leute herkommen und etwas probieren“, sagt Byirouti. „Leider hat der Krieg und der Terror viel von dem Vertrauen in mein Land und mein Volk zerstört. Doch wir sollten nicht eine Handvoll Leute als Beispiel für viele nehmen. Ich selber liebe auch die deutsche Kultur und habe sie zunächst über das Essen kennengelernt, von dem ich jetzt gar nicht genug bekommen kann. Wenn ich mit einem Stück Baklava erreichen kann, dass man aufeinander zugeht, miteinander redet und am Ende womöglich ein Stück weit umdenkt, ist es das die ganze Arbeit wert.“