Zwischen Neckar und Alb
Mit Hölderlin im Ohr unterwegs

Kultur Die Theaterspinnerei Frickenhausen inszeniert „Himmel über Hölderlin“ als famosen Audio-Spaziergang mit Live-Szenen. Die Kulisse rund um Neuffen passt perfekt zur Dichtkunst. Von Gaby Weiß

Herbstzeitlose blühen, die Bäume auf den Streuobstwiesen hängen voller Äpfel, im Weinberg hat die Lese begonnen, an Bienenkästen vorbei geht es im Wald über einen Teppich aus Bucheckern, Eicheln und Kiefernnadeln, bevor das große Theaterfinale auf einer Lichtung mit Blick auf die Burg Hohenneuffen steigt. „Himmel über Hölderlin“ heißt das Stück, das die Theaterspinnerei Frickenhausen als Audio-Spaziergang in der idyllischen Landschaft des Neuffener Tals als famoses Theatererlebnis mitten in der Natur inszeniert hat.

„Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Intendant Jens Nüßle, nachdem coronabedingt sämtliche Vorstellungen von „Der goldene Topf“ im kleinen Theater am Bahnhof Frickenhausen abgesagt werden mussten. Aber anstatt zu verzweifeln, wurde mutig angepackt. In nur vier Wochen haben die „Theaterspinner“ zum 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin ein Stück auf die Beine gestellt: Sie haben Texte ausgewählt, eine Dramaturgie entwickelt, die aufwendige Technik organisiert, eine knapp zweistündige Spazierrunde oberhalb von Linsenhofen ausbaldowert und ein Hygiene-Konzept ausgetüftelt. Jeder Besucher erhält einen Funk-Kopfhörer, der für exzellenten Klang sorgt, egal an welcher Position innerhalb der Wandergruppe man sich gerade befindet. Dank dieser Technik lässt sich konzentriert lauschen und tief in Hölderlins Gedankenwelt eintauchen. Stephan Hänlein, Autor, Regisseur und technischer Leiter, steuert jede Aufführung von einem Leiterwagen aus.

Aus Musik und Geräuschen collagierte Klangräume sind zu erleben, Gedichte und Briefe sind zu hören, Lyrik wurde eigens vertont und eingesungen, und ein Erzähler führt durch Hölderlins Leben. Man hört die Feder übers Papier kratzen, man spürt Atemzüge und Herzschlag, man lauscht aber auch den flüsternden Stimmen in Hölderlins Kopf, seinen „verstimmten Seelenumständen“.

Die mehrdimensionalen, oft kryptischen Texte Hölderlins schrecken Leser sonst eher ab. In der sprachlich äußerst gelungenen Interpretation der Theaterspinnerei zeigt sich jedoch einmal mehr: Solche Verse müssen laut gesprochen werden, damit meisterlicher Klang und faszinierender Rhythmus erspürt werden können. Jens Nüßle als Hölderlin und Susie ­Rosina Pochert als Mutter Erde Gaia in einem handbemalten Kleid gelingt es beeindruckend, die Fülle der Assoziationen erlebbar zu machen.

Die beiden Schauspieler begeis­tern auch durch die Intensität, mit der sie an sechs live gespielten Stationen Szenen aus Hölderlins Leben anreißen. Der an der Lateinschule Nürtingen, in den Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn und am Tübinger Stift ausgebildete junge Mann „disputierte“ mit Hegel und Schelling: „Was ist der Mensch? Wie soll er handeln? Was darf er vom Staat erhoffen?“ Zu Beginn war Hölderlin - entflammt von den Ideen der Französischen Revolution - ein euphorischer Revoluzzer, von der späteren Entwicklung jedoch zutiefst enttäuscht. Sein Leben lang litt er unter der unglücklichen Liebe zur verheirateten ­Susette ­Gontard, der er mit der Figur der Diotima im „Hyperion“ ein literarisches Denkmal setzte. Als leidenschaftlicher Wanderer fand er auf ausgedehnten Streifzügen durch die Natur Frieden. Trotzdem wurde es immer wieder dunkel um den Gemütskranken, der schließlich mit der Diagnose „unheilbar wahnsinnig“ 36 Jahre lang in Tübingen in einem Turm am Neckar lebte.

Hut ab vor dem Mut, mit dem die Macher des kleinen privaten Theaters dieses Projekt umgesetzt haben. Als hätten Hölderlins Zeilen aus „Hyperion“ sie angespornt: „Wir haben unsere Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die Fremde irgendeiner anderen Welt zu stürzen.“ Und diese Courage wurde belohnt: Das Premierenpublikum klatschte begeistert Beifall, der Sonnenuntergang sorgte für eine einzigartige Lichtstimmung, und als kurz nach dem Ende der Vorstellung ein paar Regentropfen fielen, spannte sich ein riesiger Regenbogen übers Neuffener Tal.

 

Weitere Möglichkeiten zum Audio-Spaziergang „Himmel über Hölderlin“ gibt es an den Wochenenden vom 2. bis zum 4. Oktober und vom 9. bis zum 11. Oktober, freitags um 17 Uhr, samstags und sonntags jeweils um 16 Uhr. Karten und nähere Informationen telefonisch unter 0 70 22/2 43 56 00 oder online unter www.theaterspinnerei.de.