Sie tragen ein weißes Hemd, Frack und Zylinder. Sind sie Absolventen der Hochschule Esslingen? Natürlich, schmunzeln beide. Aber vor 50 Jahren. 1972 haben Franz-Josef Groß und Friedrich Bachofen ihren Abschluss gemacht. Damals aber ohne Kandelmarsch. Denn das traditionsreiche Abschlussritual der Esslinger Studierenden war im Gefolge der 68er-Unruhen gestrichen worden. Demonstrieren sei in den 1970er Jahren wichtiger gewesen. Der Lehrbetrieb ihres vierten Semesters habe darum kaum stattfinden können. Umso mehr freuen sich beide, dass sie nun mit dabei sind – beim 100-jährigen Jubiläum des Kandelmarsches, der auf dem Campus in der Stadtmitte beginnt. Und es gibt noch einen Grund für ihren Besuch: „Wenn das Leben dir ein Jubiläum schenkt, dann mach ein Fest draus“, gibt Franz-Josef Groß eine Lebensweisheit mit auf den Weg.
Auch nachfolgende Generationen wissen das Ritual zu schätzen. „Wir wollen unbedingt diese wichtige Tradition mitnehmen“, drückt es Absolvent Daniel Oberdorfer aus. Doch bevor sich der Marsch mit den Absolventen, mit Prominenten und Fahrzeugen in Richtung Innenstadt in Bewegung setzten kann, bleibt Zeit für Geselligkeit. Helmut Unrath aus Hochdorf gönnt sich ein Päuschen. Zum vierten Mal, erzählt er, sei er mit seinem Oldtimer-Traktor von 1961 mit dabei: „Ich wurde sehr höflich gefragt, ob ich nicht mit meinem Fahrzeug im Tross mitfahren möchte. Und da konnte ich natürlich nicht nein sagen.“ Neben ihm sitzt Hans Kubitschek. Er werde einen Traktor aus dem Jahr 1957 fahren, sagt er: „So schöne alte Fahrzeuge muss man doch auch zeigen.“
Doch bis das Vorzeigegefährt starten kann, dauert es noch. Edmund Schrödel wuselt zwischen den vielen Menschen, den Ständen, Tischen und Stühlen herum. „Campus-Manager“ steht in schwarzen Buchstaben auf seiner roten Warnweste: „Das bedeutet, dass ich das Mädchen für alles bin“, meint er augenzwinkernd. Doch im Teamwork mit den anderen Mitgliedern des Vereins Kandelmarsch und den sechs Esslinger Studierendenverbindungen organisiert er die Veranstaltung. Er sei für den Fuhrpark zuständig, erklärt er. Immerhin zehn Fahrzeuge werden im Jubiläumszug mit dabei sein.
In dem ganzen Getümmel ist Jörg Eisinger, ebenfalls vom Verein Kandelmarsch, einmal mehr der ruhende Pol. Mehr als 420 Anmeldungen für die Teilnahme seien bei ihm eingegangen. Sogar am Veranstaltungstag habe es noch etliche Nachmeldungen gegeben. 750 Bierkrüge wurden verteilt. Sie seien mehr als nur Gefäße zur Getränkeaufnahme – sie seien Erinnerungsstücke. Vor kurzem habe er den verzweifelten Anruf eine Absolventen von 2013 erhalten: Die kleine Tochter habe den Erinnerungskrug zerbrochen – und er suche nach Ersatz. Ob dieser Ersatz besorgt werden konnte, kann Jörg Eisinger nicht mehr verraten. Denn er wird als ordnende Hand gebraucht, als ein gewaltiger Regenguss auf die Festgemeinde niederprasselt.
Die Sonnenschirme auf dem Campus schützen auch vor dem Schauer. Oberbürgermeister Matthias Klopfer flüchtet ebenfalls vor dem Nass von oben. Sein Grußwort wurde witterungsbedingt verschoben – so kann er ein bisschen plaudern. Auf dem Weg vom Rathaus zum Campus hätte er einige Bürger getroffen,die dem Umzug entgegenfiebern würden. Weiter kommt er nicht. Ein Studierender unterbricht: „Sie sind doch der OB. Konnten Sie denn kein besseres Wetter mitbringen?“ So ein Regenguss diene der Umwelt und der Nachhaltigkeit, kontert der Stadtchef: „Das ist vor allem für Ihre Generation wichtig.“
Generation, die zu feiern weiß
Es ist eine Generation, die aber auch zu feiern weiß. Während eine Studentin den OB in die Geheimnisse der Studierendenverbindungen einweiht, erinnert sich Ilse Egner an ihre große Zeit. 1987 hat sie ihren Abschluss gemacht. Sie war als Mitglied der Studierendenverbindung Staufia mit beim Kandelmarsch. Sie habe sich dort nur einen Vortrag über das Waldsterben anhören wollen, sei dann aber Mitglied geworden und geblieben. Es zählten Gemeinschaft, Miteinander, Zusammengehörigkeit.
Damit spricht sie Jörg Eisinger aus der Seele. Er wartet ruhig das Ende des Regens ab, damit Grußworte und Marsch beginnen können. Es werde sich alles regeln. Auch alle bürokratischen Regeln für den Kandelmarsch hätten er und das Orga-Team eingehalten. Sich mit der Obrigkeit zu arrangieren, sei ja auch der Ursprung des Kandelmarsches vor 100 Jahren gewesen. Damals waren Studierende mit Leitern unterwegs. Ein Polizist hatte sie ermahnt, nicht auf der Straße zu gehen. Als sie daraufhin auf den Gehweg auswichen, wurden sie von einem anderen Büttel angemotzt, nicht das Trottoir zu blockieren. So gingen sie also mit einem Bein auf dem Gehsteig und mit einem auf der Straße weiter. Das tun sie auch heute, 100 Jahre später noch – als der nachlassende Regen ein Losmarschieren zulässt.