Bissingens Bäume leiden unter Misteln. Immer mehr Laubbäume sind geschwächt, weil die Schmarotzerpflanze ihnen Wasser und Nährstoffe entzieht. Kann sich die Mistel ungehindert ausbreiten, ist das das Todesurteil für ihren Wirt. An sich ist die Mistel kein neues Problem. In jüngster Zeit hat sie sich aber so rasant verbreitet, dass sie den Fortbestand der Streuobstwiesen bedroht.
Doch Bissingen ist mit diesem Problem nicht allein: In ganz Baden-Württemberg breitet sich die Laubholz-Mistel aus. Aus diesem Grund hat die Gemeinde in Kooperation mit dem Biosphärengebiet Schwäbische Alb, der Unteren Naturschutzbehörde, der Obstbauberatungsstelle und dem Landschaftserhaltungsverband des Landkreises Esslingen ein Modellprojekt initiiert.
Ziel des Projekts ist es, die Verbreitung der Misteln zu analysieren, die Gefährdung der Bäume einschätzen zu können und Lösungsansätze zu finden. Kartiert und untersucht wurden dabei über 3000 Bäume auf Bissinger Gemarkung, etwa 1450 von ihnen innerhalb des Naturschutzgebiets „Teck“ am Osthang und rund 1600 Bäume auf den umliegenden Streuobstwiesen, erklärt Streuobstpädagogin Beate Holderied. Die Ergebnisse liegen nun vor.
Nicht jeder Baum ist gefährdet
Tatsächlich kann sich die Laubholz-Mistel nicht auf jedem Laubbaum breitmachen. Resistent sind unter anderem Birnbäume, aber auch Kirsch- und Zwetschgenbäume. Für die untersuchte Fläche bedeutet das, dass etwa 500 der gut 3000 Bäume unempfindlich gegenüber der schädlichen Pflanze sind.
Apfelbäume hingegen sind anfällig für die Misteln, dasselbe gilt für andere Laubbäume wie Ahorn und Linden. Fast ein Drittel der anfälligen Arten ist bereits von Misteln befallen, hauptsächlich Obstbäume sind betroffen. Für ihr Wachstum zapft sie mit ihren Saugwurzeln die Lebensadern des Baumes an und stiehlt ihm Wasser und Nährstoffe.
In die Streuobstwiesen verbreitet wurde die Mistel laut den Untersuchungen von Laubbäumen am Oberhang der Teck. Als „Superspreader“ gilt dabei eine große Linde. Diese ist schon so stark von den Misteln befallen, dass sie selbst im Winter grün leuchtet. Vor allem die Mönchsgrasmücke und die Wacholderdrossel beteiligen sich fleißig an der Verbreitung der Mistel.
Während die Wacholderdrossel die an den weiblichen Misteln wachsenden Beeren komplett frisst und wieder ausscheidet, verzehrt die Mönchsgrasmücke nur den weichen Teil der Frucht und den daran haftenden süßen Schleim. Den Samen streift sie in unmittelbarer Nähe der Futterstelle auf einem Zweig oder Ast ab. Dort setzt er sich fest und beginnt zu keimen. Dieses Verhalten ist ein Grund, weshalb sich die Mistel vorrangig unter Baumgruppen, die nah beieinanderstehen, verbreitet, sagt Beate Holderied.
Sie erklärt, dass die Mistel fast nur dort verstärkt vorkommt, wo die Bäume über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte nicht geschnitten wurden. Das widerspricht der Annahme, dass Misteln sich nur auf schwachen Bäumen ansiedeln können. Tatsächlich sind die Bäume durch die anhaltende Trockenheit weniger wehrhaft, doch besonders Bäume, die noch voll im Saft stehen, sind attraktiv für die Misteln.
Weil die Misteln sich erst ab dem Alter von etwa drei Jahren fortpflanzen, wäre die regelmäßige Pflege der Bäume eine geeignete Verhütungsmethode. Alle drei bis fünf Jahre sollten die Obstbäume laut Untersuchung geschnitten werden, so Holderied. Dabei sollten die Kronen licht gehalten werden, um einen Befall möglichst früh zu erkennen. Außerdem müsse abgewogen werden, ob ein normaler Schnitt genügt – oder ob der Baum bis auf das Rumpfgerüst hinuntergeschnitten werden muss. Der Rumpfgerüstschnitt sei auf Dauer kostengünstiger, allerdings riskiere man so, dass sich die Bäume von dem Radikalschlag nicht erholen. „Das muss man aber in Kauf nehmen, um die anderen zu retten“, argumentiert Beate Holderied.
Auch bei den Bäume gilt: Abstand schützt vor Ansteckung. Darum rät die Expertin, freie Flächen nur mit resilienten Arten zu bepflanzen oder einfach frei zu lassen. Neupflanzungen sollten nur mit etwa 70 Bäumen pro Hektar angelegt werden – dabei sollte ein Baum zum anderen mindestens 50 Meter Abstand einhalten.
Konkrete Maßnahmen sind außerdem Landschaftspflegetage, die für November und Dezember vorgesehen sind. Dabei beteiligen sich Freiwillige an der Pflege des Gebiets. Essenziell bleibt die regelmäßige Pflege der Obstbestände. Nicht zu vernachlässigen ist außerdem das Interesse an Misteln als Heilpflanze und Weihnachtsschmuck, der zum Küssen verführen soll. So könnte die Gemeinde mit der Genehmigung des Regierungspräsidiums beispielsweise einen Erntevertrag mit Naturkosmetik-Unternehmen abschließen. Verkauft werden können die Misteln auch ab Ende November über das Schwäbische Streuobstparadies. Doch Vorsicht: Misteln dürfen nicht einfach so entnommen und verkauft werden: „Die Mistel ist nicht geschützt, aber ohne die Genehmigung der Unteren Naturschutzbehörde darf sie nicht verkauft werden“, so Holderied.
Der „Super-Spreader“ kann nicht gefällt werden
Als verantwortlich für die starke Ausbreitung der Misteln auf den Bissinger Streuobstwiesen gilt eine große Linde, die auch noch im Winter durch den immergrünen Schmarotzer ein „grünes Kleid“ trägt. Manch einer könnte schlussfolgern, dass das Fällen des Baums das Problem lösen würde. Das ist allerdings nicht möglich: Die Linde ist als Naturdenkmal geschützt.
Die Sorge, dass sich die Misteln in der Gemeinde verbreiten, wenn die Mistel als Weihnachtsschmuck an die Haustür gehängt wird, entkräftet Streuobstpädagogin Beate Heideried. Sobald die Mistel abgeschnitten ist, verlieren die Vögel das Interesse an ihr. Denn ohne ihren Wirt trocknet die Pflanze schnell aus. Drossel und Mönchsgrasmücke wollen aber nur die weichen Beeren.
Tatsächlich ist die Mistel gar keine „Schmarotzerpflanze“. Vielmehr ist sie ein „Halbschmarotzer“. Sie entzieht der Pflanze, an die sie festgewachsen ist, zwar Nährstoffe und Wasser, betreibt aber mit ihren grünen Blättern selbst Photosynthese. kd