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Neue Hoffnung im neuen Körper

Identität Martin Steinert aus Hattenhofen beschreibt in einem Buch seinen langen Leidensweg und wie er nach einer Geschlechtsumwandlung wieder Lebensmut schöpft. Von Simon Scherrenbacher

Im April 2019 geht Martina Steinert mit ihrer Mutter zum Bestatter und sucht sich einen Sarg aus. Sie bestimmt die Lieder für die Beerdigung, schreibt ihr Testament, löst ihre Wohnung auf – kurzum: Sie schließt mit ihrem Leben ab. Heute heißt die 43-Jährige Martin und ist ein junger Mann, der gut gelaunt in die Kamera lächelt. Er hat neuen Lebensmut geschöpft, weil er jetzt im richtigen Körper steckt.

Warum er sein wahres Ich so lange verdrängte und was alles passieren musste, bis er es akzeptierte, schildert Steinert eindrücklich in seinem Buch „Der lange Weg zu mir selbst“. Dort habe er seinen „Identitätskampf niedergeschrieben“, erklärt der Hattenhofener, der schon als Kind lieber mit den Jungs spielte und sich später auch in Frauen verliebte. Den ersten Schock erleidet die zwölfjährige Martina, als sie zum ersten Mal ihre Tage bekommt. Sie lehnt ihren Körper von da an komplett ab und entwickelt eine extreme Magersucht, die zu einem festen Begleiter werden sollte.

Bei einer Größe von 1,57 Meter hungert sie sich auf bis zu 26 Kilo herunter. „Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst“, sagt ihr die Therapeutin schließlich. „Wenn du dich jetzt nicht outest, ist es vorbei.“ Dass sie nicht lesbisch war, sondern ein Mann sein wollte, wusste Martina spätestens nach der Lektüre des Buchs von Balian Buschbaum, der vor seiner Umwandlung unter dem Namen Yvonne eine erfolgreiche Stabhochspringerin war.

Und so entschließt sie sich, es endlich ihren Eltern zu sagen. Ihre Mutter steht von Anfang an hinter ihr. Ihr Vater hat Angst vor der Operation, will aber, dass sie gesund wird. Am 15. Juni 2020 wird aus Martina offiziell ein Mann, als ihr neuer Name in den Personalausweis eingetragen wird. Eine neue Geburtsurkunde erhält er ebenfalls. Wenn er sich am Telefon meldet, wird er aber immer noch mit „Frau Steinert“ angesprochen, was ihm jedes Mal einen kleinen Stich versetzt.

Doch kein Arzt will das Risiko eingehen, einen Menschen in einem solch schlechten Gesundheitszustand zu operieren. Steinert muss erst die Anorexie überwinden, konnte vor seinem Coming-out aber nicht einmal mehr Wasser bei sich behalten: „Organisch war alles kaputt, der Magen-Darm-Trakt war tot.“ Zwei Monate hätte er noch zu leben gehabt, schätzt er. Aber irgendwie schafft er es und legt Schritt für Schritt zu. Jetzt bringt er immerhin 43 Kilo auf die Waage: „Ich esse fast wieder normal.“ Weitere zehn Kilo sollen es noch werden.

Im April dieses Jahres unterzieht er sich einer neunstündigen Total-OP. Weil die Naht nicht hält, folgt eine weitere Operation eine Woche später. Es handele sich um die Spätfolgen einer Vergewaltigung, erklärt Steinert, durch die das Gewebe beschädigt wurde. Der Vorfall im Jahr 2000 war der zweite Tiefpunkt, der dazu führte, dass ab da sein Leben wie ein Film an ihm vorbeizog. Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose. Doch 21 Tage nach der Operation kann Steinert planmäßig das Krankenhaus verlassen, im Juli erfolgt der zweite Eingriff. Dass er das volle Programm durchzieht, war für ihn von Anfang an klar. Hinterher fühlt er sich wie befreit, auch wenn noch nicht alles so funktioniert wie bei einem geborenen Mann. Die Hormontherapie muss er sein Leben lang weiterführen.

Doch Martin bereut nichts: „Ich bin schon jetzt so glücklich.“ Er befinde sich jetzt im Einklang mit sich selbst, auch wenn es eine Weile gedauert hat und er viel nachholen muss: „Ich bin bei mir.“ Mit seinem Buch will er Schicksalsgenossen Mut machen, den Schritt ebenfalls zu wagen. Und wie ist das jetzt, wenn er morgens aufwacht? Fällt ihm da manchmal ein, dass er jetzt ein Mann ist? Martin muss lachen: „Nein, aber ich muss nicht mehr dran denken, dass ich immer noch eine Frau bin.“

Eine lange Leidensgeschichte

Das Buch „Der lange Weg zu mir selbst“ von Martin André Steinert ist im Novum-Verlag erschienen. Es ist eine Sammlung von Erfahrungsberichten, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Gedichten, Kommentaren und Fotos.

Texte und Bilder sind teils nichts für zarte Gemüter, schildern aber eindrücklich den langen Leidensweg des Hattenhofeners – und die Wende zum Guten. sis