Sportpilot Matthias Rust landet auf dem Roten Platz in Moskau, der Kult-Tanzfilm „Dirty Dancing“ erscheint, Steffi Graf verdrängt Martina Navratilova von Platz eins der Tennis-Weltrangliste – und Torsten Klein aus Notzingen bekommt eine neue Leber. All das geschieht im Jahr 1987. „Erst wenn man sich klar macht, wie viel in 35 Jahren passiert ist, kann man sich vorstellen, was mir ohne die Organspende entgangen wäre“, sagt der heute 52-Jährige aus Notzingen.
nie halb leer.
Dank der Spenderleber führt Torsten Klein ein ganz normales Leben: Er arbeitet als CNC-Fräser und hat noch einen Nebenjob bei den Maltesern, er macht gerne Fernreisen, hat den Motorradführerschein in der Tasche und engagiert sich ehrenamtlich. Nur selten denkt er darüber nach, dass er mit einem fremden Organ lebt. Manchmal erinnert ihn die Narbe auf seinem Bauch daran. Oder eben das Datum, an dem sich seine Transplantation jährt – dieses Jahr zum 35. Mal. Das heißt: Torsten Klein lebt nun über doppelt so lang mit der Spenderleber wie mit seiner eigenen.
17 Jahre ist Torsten Klein alt, als er das lebensrettende Organ erhält. Die Transplantation ist sozusagen Rettung in letzter Minute. Denn lange hätte der junge Mann mit seiner eigenen Leber nicht mehr durchgehalten. „Einen Tag vielleicht noch oder auch zwei“, verraten die Ärzte ihm später.
Auf die Radtour folgt die Diagnose
Torsten Klein hat gerade den Schulabschluss in der Tasche und beginnt eine Ausbildung als Modellbauer, als er erfährt, dass er unter Morbus Wilson leidet. Dabei speichert der Körper Kupfer in den Organen, unter anderem in der Leber. „Ich wollte gar nicht wahr haben, dass ich krank bin“, erinnert sich der 52-Jährige an den Sommer im Jahr 1986 zurück. Er ist damals 150 Kilometer vom Bodensee nach Kirchheim geradelt. „Das ging alles gut“, erzählt er. Zuhause jedoch schwellen seine Beine an. Nach seinem ersten Arbeitstag als Azubi geht er zum Hausarzt. Der schickt ihn sofort ins Krankenhaus. Erst kommt Torsten Klein nach Nürtingen, dann nach Tübingen. Dort wird die Diagnose gestellt. „Von da an war ich ständig im Krankenhaus“, erinnert sich Torsten Klein. Lediglich an den Wochenenden und an Weihnachten darf er nach Hause – und auch nur, weil sich sein Hausarzt bereit erklärt, ihm die lebensnotwendigen Infusionen zu verabreichen.
Trotz aller Medikamente sammelt sich in Torsten Kleins Körper immer mehr Wasser an. „Meine Blutwerte waren sehr schlecht und wegen der Blutgerinnung konnte man nicht mehr punktieren.“ Die Ärzte bringen eine neue Leber ins Spiel. Eigentlich ist geplant, zu einem Leberspezialisten nach Hannover zu fahren. Dann, im Februar, steht plötzlich eine neue Leber bereit. Torsten Klein und seine Eltern stimmen einer Transplantation in Tübingen zu. Der junge Mann ist überhaupt erst der siebte Leber-Transplantationspatient an der dortigen Uniklinik.
„Was in den darauffolgenden zweieinhalb Wochen passiert ist, weiß ich nur noch aus Erzählungen“, sagt Torsten Klein. Er erhält zwölf Blutkonserven, liegt im Koma, hat massive Schmerzen und Albträume, reißt sich einmal sogar den Beatmungsschlauch raus. Nach wenigen Tagen stößt sein Körper das neue Organ ab, Niere und Darm versagen. „Die Ärzte haben damals zu meiner Mutter gesagt: Jetzt liegt es nicht mehr in unserer Hand.“ Doch Torsten Klein kämpft und erholt sich wieder. Den Mut verliert er nie – damals wie heute nicht. „Bei mir ist das Glas immer halb voll, nie halb leer“, sagt er und schmunzelt.
Familie und Freunde halten zu ihm
Eine große Hilfe: Die ganze Zeit über halten Torsten Kleins Familie und Freunde zu ihm. Sie rufen ihn an und besuchen ihn – so schlecht es ihm auch gehen mag. „Einmal ist sogar die Freundin eines guten Freundes bei meinem Anblick zusammengeklappt“, erzählt Torsten Klein.
Die Leber empfindet er von Anfang an nicht als Fremdkörper. „Das war sofort meine“, versichert der Notzinger. „Vielleicht war es gut, dass ich so jung war. Ich habe einfach die Probleme nie gesehen.“ Krank oder eingeschränkt fühlt er sich bis heute nicht. „Dazu habe ich gar keine Zeit“, sagt er augenzwinkernd. Das liegt unter anderen an seinem Engagement als Rettungssanitäter bei den Maltesern und beim Deutschen Roten Kreuz.
Auch nebenberuflich ist Torsten Klein bei den Maltesern tätig Aktuell hilft er bei der Betreuung von Flüchtlingen aus der Ukraine. Davor war er Helfer im Corona-Impfzentrum und bei den mobilen Impfteams Der Gedanke, dass er als Transplantierter schwer an Corona erkranken könnte, ist ihm nie gekommen. „Ich habe mir vor allem Sorgen um meinen 86-jährigen Vater, um meine 80-jährige Schwiegermutter und ältere Arbeitskollegen gemacht“, sagt er. Ähnlich ist das auch schon bei größeren Reisen gewesen. Zwei Mal ist Torsten Klein gemeinsam mit seiner Frau nach Australien gereist, außerdem nach Thailand und Bali. „Ich habe mir im Gegensatz zu meiner Frau nie überlegt, was passiert, wenn dort etwas mit meiner Leber nicht stimmt“, sagt Torsten Klein und fügt hinzu: „Leben ist nun mal Risiko. Wenn man ständig Angst hat und alles mit Vorsichtsmaßnahmen vollstopft, hat man ja nichts von der Zeit, in der es einem gut geht.“
Das soll aber keineswegs heißen, dass Torsten Klein Prävention und Verantwortung ablehnt – im Gegenteil. „Ich erwarte nicht, dass jeder einen Organspenderausweis hat. Ich finde es aber wichtig, dass sich jeder Gedanken darüber macht und in der Familie kundtut, ob er bereit ist, seine Organe nach dem Hirntod zu spenden oder nicht.“ Aus seiner Sicht wäre auch eine Widerspruchslösung sinnvoller (siehe Info). „Das ist aber ein schwieriges Thema, ähnlich wie mit der Corona-Impfpflicht“, findet Torsten Klein. „Auch bei Corona ist man ja nicht nur für sich selbst verantwortlich. Mit einer Impfung schützt man auch andere, etwa Krebspatienten, die sich nicht impfen lassen können.“ Wichtig ist aus seiner Sicht, sich bei wichtigen Fragen auf vertrauenswürdige Quellen zu verlassen – ob es nun um Organspende oder Corona geht: „Lieber beim Hausarzt nachfragen statt den Fake News im Internet zu glauben“, sagt er.
Zur Aufklärung über Organspende trägt er seit seiner Transplantation aktiv bei: Torsten Klein hat schon etliche Vorträge bei Vereinen und in Schulen gehalten, ist in Talkshows und beim SWR gewesen – und er hat Gespräche mit Menschen geführt, die ein Spenderorgan brauchen oder gerade eine Transplantation hinter sich haben. Immer wieder zieht es den Notzinger auch an die Uniklinik nach Tübingen zurück. Einmal hat er dort ein Pflegedienstpraktikum gemacht, um die andere Seite kennenzulernen. Lange Zeit hat er auch noch regelmäßig zwei OP-Schwestern besucht. „Sie empfanden das als sehr motivierend, positives Feedback von einem Patienten zu kriegen.“
2979 Organe sind im vergangenen Jahr transplantiert worden
Im Jahr 2021 wurden in den 46 deutschen Transplantationszentren 2979 Organe nach postmortaler Spende übertragen. In Deutschland entnommen wurden 2905 Organe, die an Patienten auf den Wartelisten transplantiert wurden: 1492 Nieren, 742 Lebern, 310 Herzen, 299 Lungen, 57 Bauchspeicheldrüsen und 5 Därme. Insgesamt wurde 2853 schwer kranken Patienten durch ein oder mehrere Organe ein Weiterleben ermöglicht beziehungsweise zu einer besseren Lebensqualität verholfen. Gleichzeitig standen hierzulande am Jahresende jedoch noch 8448 Menschen auf der Warteliste für ein Organ.
Das Langzeitüberleben nach Transplantationen hat sich nach Information des Transplantationszentrum der Uniklinik Türbingen sehr positiv entwickelt. Es ist keine Seltenheit mehr, dass Patienten viele Jahre gut mit ihren Spenderorganen leben. Das Zentrum betreut Patienten vor und nach Transplantation von Viszeralorganen. Jährlich erhalten dort rund 100 Patienten – Kinder und Erwachsene – neue Organe. Allein seit 2004 wurden über 900 Lebern an dem Zentrum transplantiert.
In Deutschland hat es eine Strukturreform bei der Organspende gegeben: Der Bundestag hat 2020 beschlossen, dass weiterhin die Entscheidungslösung gelten soll. Das heißt: Nur wer sich aktiv für eine Organspende entscheidet, gilt als Organspender. Allerdings soll es eine Stärkung der Entscheidungsbereitschaft geben. So soll ein bundesweites Online-Register eingerichtet werden. Eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende soll künftig auch in Ausweisstellen möglich sein. Vorgesehen ist zudem, dass die Hausärzte ihre Patienten regelmäßig darauf ansprechen.
Bei der Abstimmung unterlegen ist die Widerspruchsregelung, wie sie auch in vielen anderen europäischen Ländern gilt, wie sie etwa in Österreich Frankreich, Griechenland und Italien gilt. Dort gilt jeder Bürger als möglicher Organspender, wenn er zu Lebzeiten keinen Widerspruch erklärt hat.