Was hast du denn da? Diese Frage hat Selina Reinhart im Laufe ihres Lebens schon häufig gehört. Bereits in ihrer Kindheit stellt die Weilheimerin fest, dass ihre Haut anders ist als die ihrer Mitmenschen. Zwischen zehn und zwölf Jahren beginnen sich weiße Flecken an ihren Knien zu bilden. „Zuerst hat mich meine Mutter zum Hautarzt geschickt, aber der meinte nur, das würde mit der Pubertät vergehen“, erzählt sie. Als sich die Flecken wider Erwarten ausbreiten, zieht die Familie eine Tübinger Hautklinik zu Rate. Von da an sei ziemlich schnell klar gewesen, um was es sich handle, meint die inzwischen 46-Jährige.
Ihre Diagnose: Vitiligo. Bei dieser chronischen Hauterkrankung, die auch unter dem Namen „Weißfleckenkrankheit“ bekannt ist, entstehen durch Pigmentverlust an verschiedenen Körperstellen weiße Hautflecken, die sich verändern und ausweiten können, es aber nicht müssen.
Anders als viele andere Betroffene, die von ihren Mitschülern angestarrt oder gehänselt werden, leidet sie in ihrer Jugend nicht unter ihrer gefleckten Haut – ganz im Gegenteil. „Ich hatte das Glück, dass ich immer ein Umfeld hatte, dass das als toll empfunden hat“, erinnert sich Selina Reinhart. Als Krankheit habe sie Vitiligo noch nie wahrgenommen: „Ich sage immer: Sommersprossen sind ja auch keine Krankheit.“
Ihre jungen Jahre lebt Selina Reinhart in vollen Zügen aus. Nach der Schule zieht sie für eine Weile in die USA und arbeitet als Kulturbeauftragte für Deutschland im Walt Disney World Themenpark Epcot. Diese Erfahrung beschreibt sie als „eines der besten Jahre meines Lebens“. Dort steht sie auch das erste Mal als Model für einen Sportclip vor der Kamera.
Nach ihrem USA-Aufenthalt zieht es Selina Reinhart für ein halbes Jahr in die Türkei. Anschließend kehrt sie zurück nach Deutschland, wo sie zeitnah ihren ersten Sohn zur Welt bringt. In den nachfolgenden Jahren gründet die mittlerweile zweifache Mutter eine eigene Marke und schließt ganze vier Ausbildungen ab – zur Kinderyogalehrerin, Entspannungstherapeutin, Yogalehrerin für Erwachsene und zuletzt zur Erzieherin.
Eine Leidenschaft hat sie dabei jedoch nie ganz aus den Augen verloren: „Ich fand Modeln immer spannend“, schwärmt sie. „Schon als Kind hatte ich die VOGUE und andere Zeitschriften in der Hand. Ich wollte immer einmal auf dem Cover von einem Modemagazin sein.“ In ihren Teenagerjahren spielt sie mit ihren Freundinnen „Fotoshooting“, später findet sie Freude daran, für ihr eigenes Unternehmen Modell zu stehen.
Sobald ich vor der Kamera stehe, macht es klick, und ich bin ein anderer Mensch.
Selina Reinhart, Model
Vor einigen Jahren trifft die Weilheimerin einen Entschluss, der ihre professionelle Modelkarriere ins Rollen bringt: Sie entscheidet sich, eine eigene Sedcard in einem Kirchheimer Fotostudio erstellen zu lassen. Die Fotografen sind begeistert und empfehlen ihr: „Mach da doch was draus!“
Und Selina Reinhart macht was draus: In der darauffolgenden Zeit steht sie in erster Linie für verschiedene Marken und Firmen vor der Kamera; im vergangenen Jahr wagt sie sich das erste Mal auch auf den Laufsteg – eine völlig neue Erfahrung für das angehende Model. „Bei einem Fotoshooting zählt die Pose. Man muss sich in Szene setzen können“, beschreibt sie. Laufen sei eine komplett andere Geschichte. Dennoch macht ihr beides großen Spaß. Beim Modeln blüht sie so richtig auf. „Mein Partner sagt immer: Es ist völlig egal, was für einen scheiß Tag ich habe. Sobald ich vor der Kamera stehe, macht es klick, und ich bin ein anderer Mensch.“
Alle Wege führen nach Paris
In diesem September steht Selina Reinhart der bislang größte Moment in ihrer Modelkarriere bevor: Sie wird für die Marke „Silbernadel Couture“ auf dem Laufsteg der diesjährigen Paris Fashion Week stehen. Nachdem sie die Kreationen von Designerin Jona Hoffmann bereits bei einer Modenshow in St. Wendel an ihrem Körper präsentieren durfte, ließ sie nichts anbrennen, als sie über Instagram auf das Casting aufmerksam wurde.
Anders als bei der Fashion Week üblich, habe Jona Hoffmann darauf bestanden, ihre eigenen Models auswählen zu dürfen, um mehr Diversität auf die Pariser Laufstege zu bringen, erzählt Selina Reinhart. „Sie revolutioniert die Modewelt. Diese Diversität auf der Fashion Week ist eine Weltsensation.“
Den Job zu bekommen, war kein Zuckerschlecken. „Es war ein heftiges Casting“, erinnert sich das Model. Sie habe sowohl in insgesamt vier oder fünf Runden als auch bei den Interviews überzeugen müssen. „Das hat lange gedauert und war sehr anstrengend.“ Doch: Selina Reinhart kann sich gegenüber den anderen Kandidatinnen und Kandidaten beweisen und wird im September als eines von 15 Models gemeinsam mit „Silbernadel Couture“ und „Modelcamp Germany“ in die Stadt der Liebe reisen. Ihr Glück kann sie noch immer kaum fassen: „Ich habe eine ganze Woche gebraucht, bis ich es realisiert habe. Klar, ich bin super nervös, aber hauptsächlich bin ich gespannt und freue mich mega.“
Diversität in der Modebranche findet Selina Reinhart ausgesprochen wichtig. Sie bedauert es, dass die Modeindustrie hinsichtlich dieses Wandels nicht im selben Ausmaß mitzieht, wie Werbeindustrie und Fernsehen. „Die Fashion Welt hat schon fast wieder einen Schritt rückwärts gemacht“, meint die zweifache Mutter. Sie hoffe, dass auch auf dieser Ebene endlich ein Aufbruch geschieht: „Wir dürfen nicht wieder in alte Muster zurückfallen. Es ist umso wichtiger, zu zeigen: Wir sind da!“
Dass Menschen das Anderssein ablehnen, kann sie nicht verstehen. Schließlich, so Reinhart, hätten wir solch eine schöne Individualität in der Natur. „Wir bestaunen die Tiere, die besonders sind. Je bunter und je mehr Muster, desto toller.“ Es sei komisch, ergänzt sie, dass wir Menschen von unseren Mitmenschen verlangen würden, alle gleich auszusehen.
Selina Reinhart liebt ihre Flecken – ihre ganz eigenen Muster und Farben. Morgen ohne sie aufzuwachen, kann sie sich nicht vorstellen. „Meine Flecken sind ein Teil von mir. Ohne die bin ich nicht ich. Ich gefalle mir besser so.“
