Auf dem Dettinger Rathausplatz steht unscheinbar ein kleiner Transport-Lkw, seine Ladung hat es jedoch in sich: Es sind die tags zuvor abgebauten Orgelpfeifen der katholischen Gemeinde St. Josef in Gelsenkirchen-Scholven. Die Orgel erlebt deshalb die Ökumene live, denn in wenigen Wochen wird ihr Klang in der evangelischen Kirche St. Georg zu hören sein.
Mehrere Männer packen kräftig an. „Das ist eine Ehre, hier helfen zu dürfen. Wenn ich später in der Kirche sitze und der Orgel lausche, ist es ein tolles Gefühl zu wissen: Ich war beim Aufbau dabei“, sagt einer stolz, als er mit einer großen Pfeife in den Händen aus dem Laster kommt und in Richtung Kirche marschiert. Das derzeitige Erscheinungsbild des Gotteshauses wird in dieser Form so schnell nicht mehr zu sehen sein, denn der Chor ist an diesem sonnigen Novembertag bis auf zwei Stahlträger leer. Doch dieser Zustand ändert sich schnell. Unter den bunten Fernstern stapeln sich immer mehr rheinische Orgelpfeifen in den unterschiedlichsten Größen.
Pfarrer Daniel Trostel ist ebenfalls stolz, und zwar auf die Dettinger, egal, ob seine Kirchenmitglieder oder nicht, denn die Orgel wird ausschließlich mit Spenden finanziert. Keine Kirchensteuergelder fließen in das Projekt und auch kein Cent vom Kirchen-Ersparten. „Es war spannend bis mulmig: Wann wir loslegen können und die Orgel kaufen. Es ist ein großes Geschenk, dass wir nächstes Jahr das Instrument bezahlt haben“, ist er dankbar über die große Spendenbereitschaft im Ort, ebenso darüber, das geeignete Instrument gefunden zu haben.
Vor der Entscheidung für die Pfeifenorgel gab es eine Debatte, ob es solch ein großes Instrument überhaupt braucht, ob es nicht eine weitaus günstigere, digitale Ausführung tut. Das Geld für die Orgel wäre möglicherweise für die Gemeindearbeit sinnvoller angelegt. „Da war klar: Dieses Geld wird nicht angerührt“, so Pfarrer Trostel. Ebenso klar war aber auch, dass viele Gemeindemitglieder eine richtige Pfeifenorgel wollen. So wurde vor rund zwei Jahren mit dem Spendensammeln begonnen und die Dettinger ließen sich nicht lumpen. Über 115 000 Euro sind schon auf der hohen Kante, es fehlen also „nur“ noch 35 000 Euro. Da eine neue Orgel mindestens 300 000 Euro gekostet hätte, war schnell klar, dass nur eine gebrauchte in Frage kommt.
Die alte Orgel war für Musiker-Ohren eine Zumutung. „Das Dettinger Desaster“ lautet die Kapitel-Überschrift in der Schriftenreihe des Kirchheimer Stadtarchivs „Orgeln unter Teck“, die im Jahr 2013 erschienen ist. Ernst Leuze, wohl der beste Kenner der Orgellandschaft unter Teck, stellt darin 52 individuelle Instrumente vor und riet schon damals den Dettingern, sich ein neues Instrument zu anzuschaffen. Somit war klar, dass eine Sanierung der Orgel aus den Nachkriegsjahren nicht in Frage kommt. „Das war eine Fehlkonstruktion und ist der damaligen Zeit geschuldet“, sagt Daniel Trostel ohne jeden Vorwurf. Auch der Standort war verkehrt gewählt worden. Statt in den Kirchenraum, schallte das Instrument auf die gegenüberliegende Wand im Chor an.
Auf der Suche nach einer Lösung von Anfang an mit im Boot war Stephen Blaich. Der Kantor der Martinskirche in Metzingen ist vom Oberkirchenrat zum Orgelsachverständigen für vier Kirchenbezirke bestellt. Er hatte vom Dettinger Kirchengemeinderat den Auftrag, den „Orgelmarkt“ zu beobachten. Als er ein geeignetes Instrument ausfindig gemacht hatte, fuhr er im April mit einer Dettinger Delegation in Richtung Rheinland. Alle Beteiligten waren sofort von der Orgel überzeugt, und so fiel im Mai im Kirchengemeinderat die Entscheidung für die Orgel aus Scholven. „Klang, Größe und Geld haben gepasst“, fasst es Pfarrer Trostel zusammen.
Die neue Orgel kann gegenüber der alten nur punkten. Sie wird am Chorende angebracht und ihr Schall kommt ungebremst im Kirchenschiff an. Sie hat zudem mehr Register, und zwar 24 statt bisher 19. In der ersten Lkw-Ladung wurden alle Pfeifen nach Dettingen transportiert - und derweil im rund 480 Kilometer entfernten Scholven Spieltisch, Gehäuse und Mechanik für die zweite Ladung abmontiert.