Ausschlafen? Keine Chance. Um fünf Uhr früh zieht die Stadtkapelle durch die Owener Straßen und erinnert daran, dass heute der wichtigste Tag im Owener Fest-Kalender ist: Maientag. Es ist ein Heimatfest für alle Generationen, aber besonders für die Kinder, die um kurz vor 9 Uhr aus allen Richtungen zur Sibylle von der Teck-Grundschule strömen. Alle tragen ihr schönstes Festtagsgewand, die Mädchen haben Blumenkränze im Haar, gewunden aus Margeriten, Bartnelken, Schleierkraut, Skabiosen und vielem mehr, was in den Gärten und Wiesen blüht. Die Jungen tragen Pappelzweige, verziert mit bunten Bändern. Natürlich dürfen auch die Kindergarten-Kinder nicht fehlen, die an den Händen ihrer Erzieherinnen und Eltern auf kurzen Beinchen Richtung Schule stapfen. Auf dem Pausenhof versammeln sich alle, dazu Eltern, Großeltern, ältere Geschwister und Besucher aus anderen Gemeinden und warten gespannt auf das erste Highlight.

Der Bändertanz ist traditionell in der Hand der Viertklässler. Mädchen und Jungen tanzen mit großen Ernsthaftigkeit so lange im Kreis, bis sich die roten und weißen Bänder zu einem Netz verflochten haben. Weil so viele Kinder teilnehmen wollen, gibt es sogar zwei Durchgänge. Dass auch die Jungen mittanzen dürfen, obwohl es in diesem Jahr – anders in den vergangenen Jahren – genügend Mädchen gegeben hätte, um den Bändertanz stattfinden zu lassen, ist für Schulleiterin Susanne Niemeyer ein wichtiges Signal. „Ich werde doch nicht Kinder aufgrund ihres Geschlechts von einem schönen Angebot ausschließen“, sagt sie.

Anschließend ziehen die Kinder zu den Klängen der Stadtkapelle zum Owener Rathaus, wo Bürgermeisterin Verena Grötzinger schon auf dem Balkon wartet. „Geh’ aus mein Herz und suche Freud“ schallt es über den Platz, und dieses alte Sommerlied, das in den vergangenen Jahren oft so gar nicht zum Wetter gepasst hat, könnte heute nicht passender sein. Auch Verena Grötzinger kann ihr Glück kaum fassen, dass der Maientag in diesem Jahr tatsächlich einmal auf dem Maienwasen gefeiert werden kann. „2017 waren wir zum letzten Mal dort“, erinnert sie und ergänzt: „Manche Owener haben noch nie einen Maientag auf dem Maienwasen erlebt“. Dabei sei es stets das Ziel, diesen Festtag so zu feiern „wie die Owener seit 340 Jahren“. „Mutig, mutig“ ist das Motto des Maientags in diesem Jahr, und Verena Grötzinger freut sich nun über den Mut der Stadtverwaltung, nicht von vornherein in die Teckhalle auszuweichen. „Bewahren wir es uns, auch im Alltag an das Wünschenswerte zu glauben“, sagt sie, bevor es weiter geht zum ökumenischen Gottesdienst.

„Mutig sein“ ist auch das Motto des Theaterstücks mit Tanzeinlagen, das die Owener Grundschülerinnen und -schüler am Nachmittag auf dem Maienwasen vorführen. Frösche, Schnecken, Spatzen und Mäuse treffen sich im Wald und loben einen Wettkampf aus, um herauszufinden, wer am mutigsten ist. Jedes Tier soll sich eine Mutprobe ausdenken. Doch was für die Mäuse eine Riesenherausforderung ist – tauchen, zum Beispiel – ist für die Frösche eine Selbstverständlichkeit. Am Ende können sich die Tiere trotzdem füreinander freuen und zollen dem Mut der anderen Respekt. Sogar dem der Spatzen, die sich dafür entscheiden, nicht am Wettkampf teilzunehmen.

Großen Mut beweisen nicht nur die Kinder, die im Rahmen der Theater AG Sprech- und Schauspielrollen einstudiert haben, sondern alle Kinder der Sibylle von der Teck-Grundschule, die laut Schulleiterin Susanne Niemeyer in den vergangenen sieben Tagen mit der Hilfe von Trainerinnen der „Tanzflanke“ das Tanzen trainiert haben, und zwar in den Genres Contemporary, Hip Hop, Latin und Jazz Dance, und die beim Maientag gemeinsam mit den Tieren zeigen, was sie gelernt haben. „Ihr werdet in eurem Leben immer wieder abwägen müssen: Mache ich das, oder mache ich es nicht?“, sagt Niemeyer. Diese Entscheidungen könnten Lehrerinnen oder Eltern den Kindern nicht abnehmen. Sie könnten ihnen nur beibringen, mutig zu sein und zu ihren Entscheidungen zu stehen.

Die Pädagogin hofft, dass der Maientag, wie von der Stadt Owen gemeinsam mit anderen beantragt, Kulturerbe wird – auch, weil sie sich davon mehr Ressourcen für ihre Schule erhofft. Vom Wert des Tags für ihre Schülerinnen und Schüler ist sie überzeugt. „Die Kinder wachsen so daran. Das kann man mit nichts aufwiegen, was im Unterricht stattfindet“, sagt sie.
Nach der Arbeit folgt für die Kinder das Vergnügen. Sie versuchen sich am Kletterbaum, robben über die Wurstwalze, spielen und decken sich am Wunderlich-Stand mit Süßigkeiten ein. Owener und Besucher aller Generationen feiern ihren Maientag bis in den Abend hinein.