Können Sie ab morgen kommen?“ Diese Frage hat Michael Bihl etliche Male gehört, nachdem im März die EU-Länder Polen, Rumänien und Ungarn ihre Grenzen geschlossen hatten, um dem Virus den Weg zu versperren. Quasi über Nacht war in vielen Familien rund um Kirchheim, in denen Mutter oder Vater pflegebedürftig sind, der Notstand ausgebrochen, weil die ausländischen Pflegekräfte hastig ihre Koffer gepackt hatten. Der Pflegedienstleiter der Diakoniestation Teck sagt, man habe die Angehörigen allein gelassen. „Das sind oft hoch- und intensiv zu pflegende Menschen“, sagt Michael Bihl. „Die Angehörigen holen die Leute ja nicht umsonst, sondern weil Vater oder Mutter Pflege oder Aufsicht brauchen.“
Die Pflegekräfte der Diakoniestation Teck versorgen rund um Kirchheim, Weilheim und Lenningen 690 Menschen, die zuhause leben und ambulante Pflege benötigen. Weil in der Corona-Krise viele sogenannte „24-Stunden-Kräfte“ ausgereist sind, hat die Diakoniestation neue Klienten aufgenommen. Das war aber nur möglich, weil andere abgesprungen seien, sagt Michael Bihl - in Weilheim allein 45 Menschen. „Viele pflegende Angehörige waren auf einmal in Kurzarbeit, oder die Firma war komplett zu. Die haben die Pflege dann selbst übernommen“, sagt er.
Die Not der pflegenden Angehörigen hat Michael Bihl in den vergangenen Wochen häufig vor Augen gehabt. Die Isolation habe vielen zugesetzt. „Ich habe auch weinende Menschen gesehen, die gar nicht mehr zuhause rausgekommen sind, weil sie Angst hatten, dass was reingeschleppt wird“, sagt er. Das müsse man sich mal vorstellen, wenn draußen alles dicht sei, und man sitze den ganzen Tag mit der demenzkranken Mutter, die immer das gleiche erzählt, zuhause. Kein Besuch, keine Abwechslung. Es gehe aber allmählich wieder bergauf. Auch die Gruppen für pflegende Angehörige, die während der Hochphase der Krise abgesagt waren, laufen wieder an, beispielsweise „Hilfe beim Helfen“, ein Angebot der Diakoniestation Teck für Menschen, die demenzkranke Menschen zuhause pflegen.
Postkarten statt Stuhlkreis
Judith Sueß-Marz arbeitet für „Unser Netz“ in Lenningen, den Verein, der verschiedene soziale Aufgaben im Lenninger Tal koordiniert. Die Ergotherapeutin ist nah dran an den pflegenden Angehörigen, trifft sie in der Regel am ersten Mittwoch im Monat zum Erzählen und Austauschen. Während das Virus im Tal sein Unwesen trieb, fanden keine Treffen statt. „Ich habe versucht, den Kontakt telefonisch aufrechtzuerhalten, aber es war nicht das Gleiche“, sagt Judith Sueß-Marz bedauernd. Sie schickte Postkarten an die pflegenden Angehörigen mit einer Seite für die Wolke und einer für die Sonne. „So konnte jeder schreiben, was momentan gut ist und was nicht“, sagt sie. Weniger Terminstress, beispielsweise durch das Wegfallen von Arzt- oder Therapieterminen, hätten beispielsweise viele pflegende Angehörige als positiv empfunden.
Wie Michael Bihl hat Judith Sueß-Marz in den zwei Hauptmonaten der Pandemie aber auch viel Not gesehen, weil die 24-Stunden-Kräfte plötzlich weg waren - und die Angehörigen sich sorgten um Mutter oder Vater. Es macht sie wütend, dass viel über die Helfer berichtet wurde, die Spargel und Erdbeeren ernten sollten, aber zu wenig über die fehlenden Pflegekräfte. „Das war schon eine Frechheit“, findet sie. Viele Angehörige seien in der Not kreativ geworden und gingen jetzt neue Wege, hätten beispielsweise einen ambulanten Pflegedienst engagiert und teilten sich die Aufsicht über Mutter oder Vater innerhalb der Familie. Einige Arbeitgeber verhielten sich sehr sozial und würden dadurch solche Modelle ermöglichen, lobt Judith Sueß-Marz, zum Beispiel, indem sie Homeoffice und flexible Arbeitszeiten zuließen.
Für viele ältere Menschen, die den Partner pflegen, sei die Schließung der Tagespflegen ein harter Schlag gewesen, weil so die einzige Entlastung weggefallen sei. Das Abstandhalten von Mutter oder Vater hätten besonders die Kinder als belastend empfunden. „Viele Ältere haben das nicht verstanden, warum die Kinder den Einkauf nur noch auf der Terrasse abstellen und nicht reinkommen zum Kaffeetrinken“, sagt Judith Sueß-Marz. Ihnen klar zu machen, dass das an der Ansteckungsgefahr liegt, sei nicht so leicht gewesen, vor allem bei demenzkranken Menschen.
Info: Das nächste Treffen für pflegende Angehörige im Lenninger Tal findet am Mittwoch, 2. September, von 19 bis 20.30 Uhr in der Diakoniestation Teck, Postweg 11, in Brucken statt. Mehr Informationen gibt es unter der Telefonnummer 0 70 26/60 12 29.