Immer mehr Jüngere erhalten die Diagnose Krebs. Eine weltweit angelegte Studie belegt: Die Zahl der Neuerkrankungen bei unter 50-Jährigen ist seit 1990 um fast 80 Prozent gestiegen. Ob sich diese Tendenz auch hierzulande abzeichnet, was mögliche Ursachen sind und was Anlass zu Hoffnung gibt, verraten die beiden Chefärzte und Experten auf diesem Gebiet, Prof. Dr. Bodo Klump und Dr. Matthias Geiger von der Medius-Klinik in Ruit.
Immer mehr und immer jüngere Krebspatienten. Spiegelt sich dieser weltweite Trend auch in Ihrer täglichen Arbeit?
Bodo Klump: Mann kann sagen, dass wir diese außergewöhnlich jungen Patienten, die es immer schon gab, in größerer Zahl behandeln. Das ist natürlich nicht repräsentativ, dafür sind unsere Patientenzahlen zu klein. Aber es ist ein Eindruck, der zu diesen Statistiken passt. Vor allem die Darmkrebserkrankungen, die wir auf einmal bei 30- bis 40-Jährigen erleben, sind außergewöhnlich.
Matthias Geiger: Auch beim Brustkrebs sind jüngere Patientinnen in der Wahrnehmung mehr geworden. Ganz eindrücklich zeigt sich dies auch beim Prostata-Krebs, wo deutlich jüngere Patienten um die 50 mit durchaus fortgeschrittenen Tumoren auftauchen.
Welche Erklärungen gibt es dafür?
Geiger: Die Medizin hat in der Krebs-Diagnostik natürlich große Fortschritte gemacht, etwa bei bildgebenden Verfahren oder in der Labor-Diagnostik. Dadurch haben wir Möglichkeiten, Erkrankungen in Frühstadien zu erkennen, die man früher erst entdeckt hätte, wenn Symptome auftreten.
Klump: Dies alleine erklärt diesen enormen Anstieg natürlich nicht. Der andere Teil ist deshalb darin zu suchen, was man als Umweltfaktoren annimmt. Unsere Gene bringen wir auf die Welt, wenn wir plötzlich eine Verschiebung hin zu jüngeren Patienten feststellen, muss es also weitere Faktoren geben. Beim Dickdarmkrebs ist es das Übergewicht. Wir wissen aus Studien, dass wir jede zweite Dickdarmkrebserkrankung durch Optimieren des Lebensstils verhindern könnten. Was wir erleben, ist genau das Gegenteil. Wir ernähren uns schlechter, wir bewegen uns weniger, wir werden dicker. Wenn wir fast die Hälfte dieser Krankheitsfälle durch gutes Leben verhindern könnten, zeigt das, welchen Einfluss unser schlechtes Leben im Augenblick hat.
Bei welchen Krebsarten ist die stärkste Zunahme zu verzeichnen?
Klump: Prostatakrebs ist die Nummer eins bei Zunahmen unter Jüngeren. Ansonsten sind es vor allem Erkrankungen des Verdauungstrakts. Dickdarmkrebs ist die häufigste krebsbedingte Todesursache bei Männern unter 50 Jahren. Wir beobachten diesen Trend aber auch bei Lungen- oder Brustkrebserkrankungen.
Die Angst der Menschen vor Krebs liegt häufig in der scheinbaren Willkür begründet, mit der die Krankheit zuschlägt. Was ist mit Patienten, die keinerlei Risikofaktoren mitbringen?
Klump: Da gibt es in der Forschung durchaus Kontroversen. Wie erklären wir, dass auch der sportliche, athletische Vegetarier häufiger an Krebs erkrankt? Es gilt also herauszufinden, ob es unabhängig vom Lebensstil noch andere Faktoren gibt, die das Mikrobiom verändern und dadurch eine Veranlagung für frühe Erkrankungen schaffen können, etwa in ganz frühen Lebensphasen oder in der Schwangerschaft.
Geiger: Wer beispielsweise schon im Mutterleib mit Alkohol oder Rauchen in Kontakt gekommen ist, kann ein erhöhtes Risiko tragen, früh an Krebs zu erkranken, obwohl er gesund und aktiv lebt.
Ändern sich mit der Zielgruppe auch die Therapien?
Klump: Zunächst einmal bedeutet es, dass man die Empfehlung zur Vorsorge vorzieht. Manche Fachgesellschaften raten bereits, mit der Dickdarmkrebsvorsorge nicht erst im 50. Lebensjahr zu beginnen, sondern mit 45. Für uns Mediziner heißt das, dass wir viel aufmerksamer werden bei Alarm-Symptomen. Dass wir genauer hinschauen, wo wir früher gesagt hätten, das kann nicht sein, der ist viel zu jung.
Eine Krebsdiagnose wird von vielen immer noch wie ein Todesurteil aufgefasst. Was sagen Sie denen?
Klump: Die Fortschritte in der Therapie sind riesengroß. Die Krebssterblichkeit hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten, also im selben Zeitraum wie die Studie, von der wir reden, um 30 Prozent verringert. Beim Dickdarmkrebs hat sie sich halbiert. Das ist nicht nur das Ergebnis von verbesserter Diagnostik, sondern auch von verbesserten Therapien. Dank vieler Innovationen, auf die wir jahrzehntelang gewartet haben. Nach mehr als 20-jähriger Frustration öffnet sich gerade eine Tür. Es sind Immuntherapien und Antikörper-Therapien gekommen, die nicht auf den klassischen Zellbekämpfungsstrategien mit Giften und Strahlen basieren, sondern allein darauf, dass wir das körpereigene Immunsystem über Eiweiße aktivieren.
Was macht den Erfolg für den Mediziner aus? Eine höhere Heilungsquote oder dass sich mit der Krankheit heute leben lässt?
Geiger: Beides. Was uns enorm vorangebracht hat, ist die Zusammenarbeit. Wir haben die Chirurgie, die medikamentöse Therapie und die Strahlentherapie als die drei Säulen. Früher war es durchaus so, dass diese drei Disziplinen nicht miteinander geredet haben. Heute werden diese Therapien kombiniert und gehen fließend ineinander über. Deshalb sind wir hier in Ruit Tumorzentrum. Wir schaffen es dadurch bei vielen nicht heilbaren Tumoren, eine Situation für die Patienten zu erreichen wie bei einer chronischen Erkrankung.
Lassen mRNA-Impfstoffe auf den großen Durchbruch hoffen?
Klump: Das ist ein ganz interessantes Thema. Man darf gespannt sein, wie die ersten eindrücklichen Ergebnisse der Impfung beim schwarzen Hautkrebs in Verbindung mit einer Immuntherapie auch bei der Bekämpfung anderer Tumore Einzug finden. Das ist vielversprechend, man muss aber abwarten. Wir hatten schon viele Entwicklungen, die in der Sackgasse endeten.
Welche Rolle spielt die Psyche?
Geiger: Das ist ein zentraler Punkt. Man weiß, dass in der Psychosomatik durchaus auch auslösende Faktoren zu suchen sind. Umso wichtiger ist, dass wir therapiebegleitend Unterstützung von Psychologen haben und die seelische Gesundheit mit einbeziehen.
Wie wird KI ihre Arbeit verändern?
Geiger: Das tut sie zum Teil heute schon. Vor allem in technischen Bereichen wie der Strahlentherapie oder der Radiologie, wo viel Bildgebung, viel Befundung stattfindet, kann uns KI gut unterstützen. Wir haben Endoskope, die sagen uns, wo wir bei der Darmspiegelung nicht genau genug hingeschaut haben. Die uns ständig korrigieren und auf Lücken aufmerksam machen, die uns trotz aller Erfahrung und dem Willen zur Gründlichkeit entgangen wären. Was den Unterschied zum normalen technologischen Fortschritt ausmacht, ist, dass wir hier ein System haben, das lernt.
Zur Person
Prof. Dr. Bodo Klump ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie, Tumor- und Palliativmedizin in Ruit und in Nürtingen.
Dr. Matthias Geiger ist Chefarzt der Klinik für Strahlentherapie und Tumormedizin in Ruit.