Was möchtest du machen?“ fragt Quinn im Chat. „Über Gefühle sprechen“, lautet die Antwort. Quinn hakt nach: „Wenn du deine Aufmerksamkeit auf dich und deine Gefühle richtest, wie fühlst du dich jetzt gerade?“ Quinn ist der Chatbot der iCAN-App. Regelmäßig erkundigt er sich nach dem Befinden der App-Nutzer. Die Dialogpartner sind dabei junge Menschen mit Depressionen im Alter von 13 bis 25 Jahren, die sich in der Übergangsphase nach einem stationären Klinikaufenthalt in der ambulanten Nachsorge befinden.
Neben dem „Chat mit Quinn“ beinhaltet die App zudem regelmäßige Gesundheitschecks, bei denen es gilt, verschiedene Fragen zum persönlichen Wohlbefinden zu beantworten. Dazu gibt es ein Kompetenztraining mit verschiedenen Übungen, durch die die Patienten den Zusammenhang zwischen ihrer Stimmung und ihrem Verhalten lernen. Außerdem sind in der iCAN-App nützliche Infos zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, ambulanten Therapien und Kliniken hinterlegt. iCAN steht für „intelligente, Chatbot-assistierte ambulante Nachsorge“.
Das Programm ist als bundesweite Studie unter der Leitung der Universität Greifswald im September 2021 gestartet und läuft bis Ende August 2025. Gefördert wird es mit insgesamt 3,6 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses. Seit Herbst 2023 können Kliniken und ihre Patienten an der Studie aktiv teilnehmen, 32 Kliniken sind derzeit bundesweit dabei, acht davon aus Baden-Württemberg. Das Klinikum Esslingen ist mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik (Patienten von sechs bis 18 Jahren), unter der Leitung von Chefarzt Dr. Gunter Joas sowie der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Patienten ab 14 Jahren) unter der Leitung von Chefarzt Dr. Björn Nolting mit gleich zwei Bereichen an der Studie beteiligt.
Lange Wartezeiten überbrücken
„Unsere Patienten sind im Schnitt acht bis zwölf Wochen bei uns. In diesem Zeitraum stabilisiert sich ihr Zustand bis zur Entlassung“, so Björn Nolting. Danach gelte es, die erreichte Stabilität im Alltag aufrecht zu erhalten, ergänzt Gunter Joas, zumal es oft bis zu einem Jahr dauern könne, bis man einen Platz in einer ambulanten Psychotherapie bekomme. Für diese Übergangszeit sei das iCAN-Programm eine gute Chance. „Smartphones und Apps gehören in der Zielaltersgruppe zum Lebensumfeld, man hat es immer dabei. Die App-Inhalte bieten daher eine niederschwellige Unterstützung und das zu jeder Zeit. Ziel ist es, einen weiteren stationären Aufenthalt vermeiden zu können.“ Drei Monate lang nutzen die Studienteilnehmer die App. Insgesamt 50 Plätze stehen den beiden Esslinger Klinikabteilungen zur Verfügung, gut die Hälfte sind bisher belegt. Bis September läuft die Suche nach geeigneten Teilnehmern weiter. „Diejenigen, die wir bisher angesprochen haben, waren interessiert und dankbar, dass es dieses Angebot gibt“, berichtet Björn Nolting.
Kein Ersatz für Therapie
„Wichtig ist, dass das Programm keine Konkurrenz zur allgemeinen Psychotherapie ist. Ist ein Patient bereits in einer ambulanten Behandlung nach der Klinik, kann er nicht teilnehmen“, erklärt Jakob Kerner, der am Klinikum Esslingen Kinder- und Jugendpsychotherapeut in Ausbildung und bei der Patientenauswahl für die Studie dabei ist. „Ebenso wenig teilnehmen können akut Suizidgefährdete oder jene mit einer Suchterkrankung“, ergänzt Gunter Joas, „die Depression steht klar im Vordergrund, da können dann noch eine Angst- oder Zwangsstörung dazugehören.“
Ein Ziel der App-Nutzung sei es, dass die jungen Patienten lernen, sich selbst besser einschätzen zu können, so Joas, "dass sie erkennen, wie es ihnen geht und wann sie Hilfe benötigen." Viele kämen sehr krank in die Klinik, weil zu spät reagiert wurde. „Manche waren schon ein Jahr oder länger nicht mehr in der Schule. Wir müssen vor diese Welle kommen“, sagt der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Fallschwere nehme auch bei den ganz jungen Patienten zu. So gebe es schon Kinder im Grundschulalter mit Depressionen, Angst- und Essstörungen oder gar suizidalen Gedanken.
„Früher waren diese Patienten selten unter zehn Jahre alt“, so Joas. Natürlich spiele dabei die digitale Welt und der damit einhergehende soziale Druck eine Rolle, weiß Björn Nolting. Bei den Kindern und Jugendlichen seien ganz klar die Eltern gefordert, wenn es um die nötige Grenzziehung bei der Nutzung der digitalen Angebote gehe. Das gelte etwa auch zur Suchtvorbeugung bei Computerspielen, betonen die Mediziner. Die iCAN-App sei ein sinnvolles digitales Angebot, das auch nach der Studie hoffentlich weiterlaufen könne.
Das sind die Inhalte der iCAN-Studie
Ablauf Die dreimonatige Studie startet für die Teilnehmer während ihres stationären Klinikaufenthalts etwa eine Woche vor der Entlassung mit Vorgesprächen und der zufälligen Einteilung in die iCAN- oder die Kontrollgruppe. Erstere nutzt die App vollumfänglich, inklusive wöchentlicher Tele-Gespräche mit einer Psychologin. Die Kontrollgruppe macht zwar wie die iCAN-Gruppe ebenso wöchentlich einen Gesundheitscheck, hat aber keinen Zugriff auf die zusätzlichen App-Angebote oder die Tele-Gespräche. Für beide Gruppen gibt es zudem drei telefonische Termine: sechs Wochen, drei und sechs Monate nach der Klinikzeit. Dabei stehen Interviews und die Beantwortung von Fragebögen zum Befinden an.
Teilnahme An der Studie teilnehmen können 13-25-Jährige, die wegen einer Depression in einer der teilnehmenden iCAN-Kliniken oder Tageskliniken in Behandlung und bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind. Bei unter 18-Jährigen ist das Einverständnis der Eltern erforderlich. Jeder Teilnehmer erhält eine Aufwandsentschädigung von 300 Euro.
Infos Weitere Infos zum iCAN-Programm und den teilnehmenden Kliniken findet man online unter www.ican-studie.de eis