Wahre Esslingen-Kenner haben es gleich bemerkt: Mit dem Adler unter der Kaiserkrone am Alten Rathaus stimmt etwas nicht. Das stolze Wappentier, Gipfelstürmer der großen astronomischen Kunstuhr aus dem 16. Jahrhundert, blickt seit ein paar Tagen ziemlich dumm in die Landschaft. So, wie man eben aussieht, wenn einem das Prächtigste, das man zu bieten hat, abhanden gekommen ist. Im Falle des Reichsadlers sind das die beiden Schwingen, mit denen er über den Figuren der Justitia und der Temperantia die vollen Stunden schlägt. Obwohl Birgit Hahn-Woernle in dem Buch über „Die Uhr am Alten Rathaus in Esslingen“ die Ansicht vertritt, dass es sich bei dem Tier nicht um den Reichsadler handeln könne, weil er auf die falsche Seite gucke. Aber egal. Kein Vogel ohne Flügel. Das ist mit oder ohne Reich einfach eine Frage der Würde. Und immerhin führt ihn die Stadt in ihrem Wappen.
„Meine Freunde und ich rätseln beim Blick auf das Alte Rathaus, wo ,dem Adler seine Flügel’ abgeblieben sind“, hat uns Cornelius Hauptmann geschrieben. Auch Christoph Mauz, Apotheker nebenan, dessen Großvater sich einst um das Glockenspiel fürs Alte Rathaus verdient gemacht hat, hat bemerkt, dass dem Tier die Flügel gestutzt wurden. Ein Dieb? Immerhin sind die Schwingen teilweise vergoldet. Unwahrscheinlich. Die Freeclimber-Szene dürfte wenig Interesse an Reichsadler und Co. haben. „Aber eigentlich braucht man ja einen Kran, um die Flügel abzumontieren. Und der ist mir nicht aufgefallen“, rätselt Mauz.
Dennoch muss einer da gewesen sein. Denn eine Fachfirma habe die Schwingen am 15. August abgebaut, hat Rathaussprecher Michael Botsch recherchiert. In der Tat: Mitarbeiter der Firma Eisenhart Turmuhrenbau sind mit einem Kran angerückt, haben die Schwingen abmontiert und in ihre Werkstatt nach Möglingen gefahren. Dort wird das Gefieder jetzt restauriert. Denn was vermutlich die wenigsten Bewunderer von unten vermuten würden: Die etwa 80 Zentimeter hohen Flügel sind aus Holz. Das Gold ist teilweise abgebröselt, Wasser ist eingedrungen, das Holz teils gesprungen, teils faulig geworden. „Es bestand die Gefahr, dass zumindest Teile davon auf den Rathausplatz hinunter fallen könnten“, antwortet Falk Falkenberger, Mitarbeiter der Fachfirma. Und die Vermutung drängt sich auf, dass Esslingen mit der Schlagzeile „Tourist von Reichsadler erschlagen“ wohl doch nicht in die Geschichte eingehen wollte. Bei der Fachfirma sind des Adlers beste Stücke jedenfalls in guten Händen. Sie hat sich schon um das Esslinger Glockenspiel und andere Preziosen der Stadt verdient gemacht. Allzu vielen Touristen scheint es allerdings noch nicht aufgefallen zu sein, dass der Adler derzeit eher den gerupften Hühnchen ähnelt, die Max und Moritz der Witwe Bolte vom Tisch geklaut haben. „Bei uns gab es noch keine Nachfragen“, hieß es am Dienstag aus der Stadtinformation am Marktplatz. Gerüchte, die Stadt wolle ihren Adler aus Kostengründen gar nicht reparieren, sondern ihn als Pleitegeier über dem Alten Rathaus nackt im Regen stehen lassen, haben sich bislang - noch - nicht bestätigt.