Nur noch ein paar Striche. Zielgerichtet greift Regina Fährmann zum goldfarbenen Permanentmarker, zieht mit dem dünnen Stift ein paar feine Linien, hält inne, überlegt. Sorgfältig inspiziert und kontrolliert sie das soeben Gemalte, optimiert Ausdruck, Körperhaltung und Farbgebung. Spürt der Betrachter ohne vorherige Aufklärung was die Person auf dem Bild denkt, fühlt? „Langsam nähere ich mich dem an, was ich malen möchte“, erklärt die Künstlerin und macht deutlich: „Ich lege bei meiner Arbeit Wert darauf, sehr perfektionistisch zu sein.“
Es ist die Idee. Eigentlich simpel und ungewöhnlich zugleich. Schon vor einiger Zeit fand Regina Fährmann ihre Motive in der Natur: Bäume, Sträucher, Gestein oder einfach nur den Waldboden. Selbst fotografiert und danach auf Glanzpapier im Format 3:2 ausgedruckt. Stimmen für die Künstlerin Perspektive und Strukturen des Bildes, fügt sie mit plastischen Effekten Menschen, Tiere oder fratzenhafte Alptraumgestalten ein. Weckt mit Farben, Licht, Kontrasten und viel Kreativität ganz unterschiedliche Emotionen, verrät: „Ich bin dankbar dafür, dass ich diese Fähigkeit habe“.
Mit ihren Bildern erzählt Regina Fährmann immer eine Geschichte: Der verzweifelte Flüchtling, der sich aus dem Boden schält, die wissende Eule im Gebüsch, der Delfin, dem die Maske verrutscht ist. Mal ist diese kurz, eine Momentaufnahme, mal wird daraus eine kleine Reihe, eine Fortsetzung. Aktuell ist die Protagonistin dieser Pentalogie eine Frau, die in einer zerklüfteten Felsenlandschaft oder Höhle an ihre Grenzen kommt. „Ob ich das schaffe?“, scheint sie sich zu fragen. Das rechte Bein bis zur Brust angezogen, ihr linkes Bein findet ein wenig Halt auf einem Felsvorsprung, mit beiden Händen krallt sie sich in die senkrecht verlaufende Steilwand, die kaum Möglichkeiten zum Festhalten bietet. Unter der Frau mit dem blonden Zopf lauert der dunkle Abgrund.
„Ich muss kurz eine Pause machen“, sagt die Künstlerin. „Es ist ein Kampf mit den Stiften, sie sind oft nicht so fein, wie ich es brauche.“ Für die 78-Jährige wird es immer schwieriger den Permanentmarker zu halten. Seit 30 Jahren leidet sie an chronischer Polyarthritis. Sie musste wegen dieser entzündlichen Autoimmunerkrankung, die ihr starke Schmerzen bereitet, ihre vielfältige Berufstätigkeit als Lehrerin, Heilpädagogin und Altenpflegerin aufgeben. Dennoch malt sie nahezu täglich, nennt als Grund: „Ich lebe alleine auf 26 Quadratmetern, fühle mich aber durch den Flow meiner Arbeit nicht einsam. Für mich ist das Alter nicht nur eine Last, ich sehe darin die Chance, die Dinge aus dem Blickwinkel eines nahenden Todes zu sehen.“
1942 in Wien geboren, floh sie, gerade mal zweieinhalb Jahre alt, mit ihren Eltern rund 300 Kilometer zu Fuß zum Wörthersee. 1950 kam sie von Tirol nach Frankfurt am Main. Nach dem Abitur 1963 studierte sie in der Meisterklasse der „Beaux Arts“ in Paris, dann an der Goethe-Universität Frankfurt. Regina Fährmann entschied sich für die „Frankfurter Schule“, eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern, die an die Theorien von Hegel, Marx und Freud anknüpfte. Anschließend absolvierte sie ein Lehramtsstudium und widmete sich auch der Porträtmalerei.
1983 entwickelte die ehemalige Neidlingerin mit einer Elterngruppe an der Waldorfschule Nürtingen Aufführungen im Sinn eines Schattentheaters, 2001 folgte Regina Fährmann der Einladung afrikanischer Puppenspieler-Gruppen. Fortan reiste sie als unermüdliche Botschafterin noch bis vor vier Jahren immer wieder nach Westafrika, blieb mehrere Monate im Land, um das Volk in den entlegensten Dörfern im Staat Burkina Faso über Aids und die Beschneidung von Mädchen aufzuklären. Gemeinsam mit den jeweiligen Dorfbewohnern erarbeitete sie bis 2017 hunderte solcher Schattentheaterstücke zur Aufklärung, die sie alle selbstständig in ihrer Landessprache aufführten.