Warme Sonnenstrahlen fallen auf den Lindenhof. Auf der kleinen Koppel dösen zwei Pferde in der Nachmittagssonne, friedliches Schnauben und ein leises Wiehern dringen aus dem hinteren Teil des Hofs bei Ohmden. Hinter dem Reitplatz, auf der anderen Seite des Stalls, steht der Höhepunkt des Tages bevor: Für das Deutsche Reitpony Naira und das Welshpony Naomi beginnt die Reittherapie. Mit dabei ist Sozialarbeiterin, Reittherapeutin und Reitpädagogin Janine Lebküchner.
Die junge Frau bietet schon seit zwei Jahren diese Unterstützung an. Dabei betreut sie Kinder zwischen drei und 13 Jahren in Einzelstunden, auch Kooperationen mit Schulen, Kindergärten und für Kinder mit Behinderung in Gruppen sowie Ferienkurse sind möglich. „Bei der Reittherapie geht es nie darum, das Reiten zu lernen – es hat immer therapeutische oder pädagogische Ziele“, erklärt Janine Lebküchner. Der Trick ist, die Kinder mit den Pferden zusammenzubringen.
Wie die großen Tiere auf die Kinder wirken, ist fast magisch. Kinder, die Schwierigkeiten im Alltag haben, die hochsensibel sind oder mit ADHS, Ängsten und Depressionen zu kämpfen haben, können bei Naira und Naomi ganz sie selbst sein. „Die Reittherapie kann keine Psychotherapie ersetzen, sondern findet daneben statt“, erklärt Lebküchner. Mit ihren Klienten entwirft die Reittherapeutin eine Zielplanung, die in immer kleinteiligere Unterziele unterschieden wird. Beispielsweise lernt ein Kind nicht direkt, ein Pferd komplett zu putzen, sondern erst, eine Seite zu bürsten. So werden die Ziele überprüfbar. Die Anamnese erfolgt mit den Eltern und dem Kind. Janine Lebküchner will den Kindern einen Raum geben, wo sie sich sicher fühlen, wohl fühlen, etwas können. Es soll nicht so sehr darum gehen, was sie nicht können oder welche Störungen im Alltag vorliegen.
Mia und Hermine sind schon ganz aufgeregt. Die beiden gehören zu den Pony-Zwergen. Das sind Kinder zwischen vier und sieben Jahren, denen in kleinen Gruppen mit Methoden aus der Reitpädagogik der Umgang mit dem Pony beigebracht wird – einfühlsam und ohne Druck, versteht sich. Dabei kommt der Spaß keinesfalls zu kurz, denn das Voltigieren ist Teil des Angebots – und besonders bei jungen Mädchen liegt das Glück der Erde ja bekanntlich auf dem Rücken der Pferde. Und so ist es wenig überraschend, mit welcher Vorfreude – aber auch Sorgfalt – Mia und Hermine Naomi für die Voltigierstunde vorbereiten. Auf dem Putzplatz striegeln sie das robuste Fell und kratzen die Ponyhufe sauber. Dann geht das Trio auf den Reitplatz. Hermine führt das Pony, während Mia auf Naomis Rücken sitzt. Auch das Führen gehört zum Programm, genauso wie die Pflege. Mia und Hermine nutzen weder Sattel noch Longiergurt, das zeigt die Verbindung zu dem freundlichen Tier. Das Mädchen lobt und streichelt das Pony, während Janine Lebküchner die Führung übernimmt. Lebküchner und ihr Schützling werfen einen Würfel, der darüber entscheidet, welche Voltigierübung als nächstes folgt. „Fahne“ zeigt der riesige Quader an. Das federleichte Mädchen kniet sich auf den Ponyrücken und streckt ein Bein und einen Arm weit von sich.
Die Zeit auf Naomis Rücken ist allerdings nur die Spitze des Programms. Die Ponyzwerge lernen auch die Körperteile der Pferde kennen, und wie sie die Vierbeiner unterscheiden können. Und sie erfahren, wie sie auf die Bedürfnisse der Pferde eingehen können. Was bedeutet es beispielsweise, wenn ein Pferd die Ohren anlegt oder was macht es gern? Nach der Voltigierstunde versorgen Mia und Hermine Naomi – das ist für die Mädchen mittlerweile selbstverständlich. Auch die Fütterung übernehmen die gewissenhaften Nachwuchsakrobatinnen – und lernen dabei gleich eine wichtige Lektion: Naomi will nicht so recht fressen, braucht lange, um den Eimer zu leeren. Und die beiden Mädchen bleiben geduldig neben dem Pony stehen, bis der Eimer leer ist. Dinge zu Ende zu bringen ist eine Fähigkeit, an der selbst der eine oder andere Erwachsene zu scheitern droht, doch die Mädchen bestehen die Herausforderung mit Bravour.
Die Kommunikation mit den Ponys funktioniert auf einer anderen Ebene als die zwischen zwei Menschen, erklärt Janine Lebküchner. Die Kinder lernen, mit ihrem Körper zu kommunizieren und ihre Energie einzusetzen. „Pferde sind Flucht- und Herdentiere, sie haben ein sehr ausdifferenziertes, kommunikatives Verhalten“, erklärt Janine Lebküchner. Die Tiere reagieren auf viele kleine Bewegungen, auf Muskeltonus, Atmung und Puls – und sie spiegeln die Kinder oft wider, nehmen beispielsweise den Kopf hoch oder gehen etwas schneller, wenn der kleine Mensch neben ihnen nicht entspannt ist. Diese Art kann auch bei sprachlichen Einschränkungen wie Mutismus helfen: Die Kinder erfahren, ohne Sprache verstanden zu werden. So kann auch das Selbstbewusstsein der Kinder gestärkt werden. Bei Depressionen kann die Zeit auf dem Pferd anregen, aktiv zu sein oder zur Entspannung führen. Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten können lernen, etwas mit System zu machen, beispielsweise, wenn sie lernen, das Pferd in der richtigen Reihenfolge zu putzen. Und die Kinder üben, im Hier und Jetzt zu sein – denn wenn ihre ganze Aufmerksamkeit nicht auf dem Pferd liegt, dann macht das Tier einfach was es will.
Bei Ronja macht das Welshpony Naira nicht, was es will, sondern konzentriert sich voll und ganz auf das Mädchen. Ronja führt Naira sehr ruhig und vertraut, während sich das Pony entspannt führen lässt. Schon seit über einem Jahr ist das Mädchen bei Janine Lebküchner in Therapie. „Sie ist sehr, sehr eng mit dem Pferd, das ist fast schon eine Symbiose: Auf die kleinste Regung der einen reagiert die andere“, beschreibt ihre Mutter das Zusammenspiel. Auf dem Reitplatz nimmt sich Naira Zeit, alles zu beschnüffeln – und Ronja lässt sie gewähren. Dann aber fordert Ronja wieder die Aufmerksamkeit des Tiers ein: Sie beginnt zu joggen, schnalzt – und Naira beginnt nach wenigen Sekunden zu traben. Auf die Laufübungen folgt das Reiten. Naira wird – wie die anderen Pferde – „gebisslos“ geritten, also ohne Gebiss an der Trense. „Blick vor, Energie nach vorne richten“, fordert Janine Lebküchner immer wieder. Ronja sitzt voller Selbstsicherheit und überglücklich auf ihrer Naira. Das Jahr mit Naira hat Ronja Selbstbewusstsein gegeben, sagt ihre Mutter – und sie verrät auch, dass Ronja nur einen Berufswunsch hat: Selbst Reittherapeutin werden.