Lange blieb Robin Semsch auf dem Ortsschild sitzen, als er nach vier Jahren, einem Monat und acht Tagen zurück nach Gutenberg kam. „Das war voll der Zwiespalt in mir“, verrät er. Hinter ihm eine Meute Wanderkollegen in der Kluft, die ihn lautstark aufforderten, wieder loszuziehen, vor ihm die Familie, Freunde und viele Leute aus dem Flecken, die ihn sehnlichst zurückerwarteten. Er stieg auf Gutenberger Seite ab. Vier Jahre Walz sind genug. Das hatte er entschieden und sich „einheimisch“ gemeldet. „Wenn du wieder in deinem Bett geschlafen hast, gehst du nicht mehr“, davon ist der Maurer überzeugt. Das Nächtigen unterwegs war teils alles andere als komfortabel. „Wir haben auch mal in Tiefgaragen oder in Vorräumen von Banken geschlafen“, erzählt der 25-Jährige.
Auf seiner Wanderschaft, die ihn nach einem gaudihaften Münzwurf bis nach Südamerika führte, erlebte Robin Semsch Aufs und Abs. Das „größte Tief“: Auf einer Baustelle fiel er 5,70 Meter durch ein Treppenloch. Wie durch ein Wunder trug er keine bleibenden Schäden davon. Trotz eines lädierten Halswirbels konnte er das Krankenhaus nach drei Tagen wieder verlassen. Zwei Monate war an Arbeit nicht zu denken, doch kümmerten sich der damalige Chef und dessen Frau um ihn, als gehörte er zur Familie.
Häufig begegneten Menschen dem 25-Jährigen völlig unvoreingenommen. Ein Mann drückte ihm seinen Schlüssel in die Hand und bat ihn, sein teures Auto auf einem Parkplatz abzuholen, ein anderer, den er in einer Kneipe kennengelernt hatte, ließ ihn am nächsten Morgen allein in seiner Wohnung zurück. „Das Vertrauen, das man da erlebt, ist schon krass“, sagt er.
Krass sind auch die Regeln, denen Wandergesellen unterliegen: Drei Jahre und einen Tag dürfen sie der Heimatgemeinde nicht näher kommen als 60 Kilometer. Das Mitnehmen eines Handys ist tabu, losziehen darf man nur mit dem „letzten Hemd“, also mit gerade mal fünf Euro in der Tasche. Für Fahrten Geld auszugeben, ist nicht erlaubt, Trampen angesagt. „Da wirst du auch mal zum Psychologen“, meint Robin Semsch und erinnert sich schaudernd an eine Wahnsinnsfahrt, als ein Lebensmüder mit 230 über die A 7 bretterte. Beim Aussteigen habe der Fahrer sogar gelächelt. „Ich glaube, es war gut, dass er mich zum Reden hatte“, sagt er.
Ein „Exportgeselle“ erleichterte dem Maurer den Start. Bis zur ersten Arbeitsstelle wurde er von dem erfahrenen Kollegen durchgefüttert, und er zeigte ihm, wie er sein Bündel am besten schnürte. „Charlie“, nennen die Wandergesellen kumpelhaft die Charlottenburger, die sie mit ihrem Gepäck schultern. – 80 auf 80 Zentimeter große Tücher, kunstvoll bedruckt mit geschichtlichen Motiven aus der Zunft. Die zehn Kilo, die Robin Semsch darin anfangs mitschleppte, speckte er nach und nach auf sechs ab. „Man merkt schnell, was man braucht und was nicht“, sagt er. Sich von Ballast zu befreien, gehört zu den vielen Dingen, die er gelernt hat. „Die vier Jahre bezeichnet er deshalb nicht nur als „geil“, sondern auch als lehrreich. „Ich habe ein viel offeneres Weltbild bekommen.“ In insgesamt 14 Betrieben hat er gearbeitet und sich dabei handwerkliche Finessen angeeignet, so auch das von ihm geliebte Montieren von Klinkerfassaden. Er hat die „ehrliche Haut“ im Ruhrpott zu schätzen gelernt, und er geht viel cooler als früher mit schwierigen Situationen um, denn nicht überall sind die vagabundierenden Handwerker wohlgelitten. Selbst als „Nazi“ wurde er beschimpft. Ein Wirt warf ihn und seine Kumpels hochkant raus, weil Vorgänger die Zeche geprellt hatten. „Man muss sich so verhalten, dass spätere Wandergesellen willkommen sind“, so das Credo von Robin Semsch. Es ist Teil der Regularien des „Rolandschachts“, dem er angehört und dessen Treffen ihm öfter die Tür zu neuen Arbeitgebern aufstießen. In vielen größeren Städten finden regelmäßig Treffen – das sogenannte „Aufklopfen“ – des 1891 gegründeten Zusammenschlusses reisender Handwerker statt. Stolz holt der Gutenberger traditionelle Utensilien wie einen Seidel und die „blaue Ehrbarkeit“ hervor – ein mit der goldenen Handwerksnadel geschmückter Bendel, den er als Erkennungszeichen stets am Hals trug.
Den „Schritt ins Ungewisse“ zu wagen, rät Robin Semsch jedem Handwerker, dem sich die Gelegenheit bietet. Ihn hat sein Mut nicht nur in viele Winkel Europas, sondern auch nach Übersee geführt. Er begegnete auf den San-Blas-Inseln in Panama einem Kuna-Stamm, gigantisch fand er den Karneval in Kolumbien, cool das Arbeiten auf einer Kakao- und Kaffee-Finka im Dschungel mit zwei Kollegen. Als Gegenleistung übernahm der Geschäftsmann Kost und Logis sowie den Rückflug – kein geringer Lohn. „Er hatte wohl nicht mit unserem Bierkonsum gerechnet“, sagt Robin Semsch schmunzelnd.
Wieder in Deutschland, wunderte sich der Gutenberger über den leeren Flughafen und stundenlanges Daumenraushalten. „Von Corona hatten wir nichts mitgekriegt“, sagt er. Die Pandemie war nicht einfach, privat unterzukommen fast unmöglich. Gasthäuser fehlten als Quelle für Jobs. Die Durststrecke ist mit ein Grund, dass aus den drei Jahren vier Jahre wurden. Jetzt ist definitiv Schluss: „Wandern ist ein Lebensabschnitt, keine Lebenseinstellung“, betont Robin Semsch. Noch Tage nach seiner Rückkehr muss Martina Semsch schlucken. „Ich bin bestimmt zehn Kilo leichter“, sagt sie. Bis dato hatte der Sohn wenig erzählt, doch eine Geschichte treibt ihr die Lachtränen in die Augen: Eine Rathausmitarbeiterin, bei der er sich einen Stempel fürs Wanderbuch und fünf Euro Wegegeld holte, verstand weder seinen Namen noch den seines Kollegen. „Schreiben Sie Robin Senf und Kalle Ketchup“, sagte Robin Semsch. Genau so steht es jetzt auf der Quittung.