Kirche
„Sai oder nicht Sai?“ – eine Bissinger Glaubensfrage

In der Gemeinde werden am 1. Juni zum zweiten Mal neue Kirchenmitglieder per Taufe im See in die Glaubensgemeinschaft aufgenommen. Das neue Format kommt gut an.

Bissingens Gemeindepfarrer Markus Frank bietet Taufen im See an.   Foto: Tobias Tropper

Markus Frank ist einer, der die Kirche gerne im Dorf lässt. Trotz seiner 16 Jahre als Pfarrer der Versöhnungskirche in der Großen Kreisstadt Nürtingen genießt er Gemeinschaft und Zusammenhalt in ländlicher Umgebung. Seit eineinhalb Jahren ist der 48-jährige Gemeindepfarrer in Bissingen, nur einen Katzensprung entfernt von dort, wo er aufgewachsen ist – im noch beschaulicheren Holzmaden. Eine kurze Zeit, in der er nicht nur neue Kontakte geknüpft, sondern auch neue Wege beschritten hat.

„Sai oder nicht Sai?“, das ist in Bissingen seit vergangenem Sommer keine Frage philosophischen Tiefgangs, sondern vielmehr Ausdruck neuer Freiheit auf dem Weg zu kirchlicher Weihe. Die Bissinger und ihr „Sai“ (See) verbindet seit jeher ein Verhältnis, das sich – frei interpretiert – als durchaus religiös bezeichnen ließe. Am Wasser mitten im Dorf trifft man sich, feiert, entspannt, und das seit Generationen. Hier hatte eine ruhmreiche „Kanalschwimmerin“ vor mehr als 100 Jahren erstmals Kontakt mit dem nassen Element, hier finden sportliche Wettkämpfe statt – und neuerdings eben auch Taufen.

Am See haben wir die schönsten Stunden verbracht.

Die 28-jährige Franziska Nägele aus Bissingen und ihr Mann lassen ihre Tochter unter freiem Himmel taufen.

„Am See haben wir die schönsten Stunden verbracht“, sagt Franziska Nägele. Die 28-Jährige und ihr Mann sind beide in Bissingen aufgewachsen. Am 1. Juni werden sie ihre acht Wochen alte Tochter nicht in der Kirche, sondern im See taufen lassen. Den Termin haben sie sich ganz bewusst aufgespart, um diesen besonderen Tag vor besonderer Kulisse feiern zu können. 35 Köpfe zählt die Taufgesellschaft aus Familienmitgliedern und Freunden. „Alle freuen sich riesig darauf, schließlich hat keiner bisher so etwas erlebt“, sagt die junge Mutter.

Der Weg vom Taufbecken in der Bissinger Marienkirche ans Ufer des Sees war für Markus Frank ein naheliegender. Nicht nur aus kirchenhistorischer Sicht. Schließlich wurde auch Jesus der Überlieferung zufolge unter freiem Himmel im Jordan getauft. Ob dies als besonderer Ort galt, ist nicht überliefert. Der „Sai“ in Bissingen ist es jedenfalls – zumindest für die Bissinger. „Kirche soll an Orten sein, wo Menschen sich wohlfühlen“, sagt der Pfarrer. Der Kirchengemeinderat war entsprechend schnell überzeugt von der Idee. Dass er damit einen Nerv in der Gemeinde traf, beweisen nicht nur die vielen positiven Rückmeldungen, sondern auch diese Zahl: 13 Täuflinge versammelten sich bei der Premiere vor einem Jahr am Dorfweiher, um das erste Sakrament der Kirche zu empfangen. Für die Neuauflage an diesem 1. Juni gibt es erneut neun Anmeldungen. Das neue Format hat sich schnell herumgesprochen. Die Zusammenarbeit mit Pfarrerskolleginnen und -kollegen in Nachbargemeinden hat den Kreis deutlich erweitert. Die Tatsache, dass Markus Frank mit Nabern und dem Bissinger Alb-Teilort Ochsenwang gleich drei Gemeinden in seiner Obhut hat, trägt ein übriges zur Popularität bei.

Frank macht sich nichts vor: „Wir leben in einer Zeit, in der sich die Kirche auf den Weg machen und schauen muss, wo sich die Menschen aufhalten“, sagt er. Was er bieten will: „ein unvergessliches Erlebnis in besonderer Umgebung und aus besonderem Anlass“. Keine bloße Werbeaktion gegen den grassierenden Mitgliederschwund, mit dem die Kirche zu kämpfen hat, auch keine Inszenierung als „Happening“, wie er betont. Wenn der Pfarrer barfuß zur Taufe schreitet und kurze Hose trägt unter dem Talar, dann ist das nicht coole Show und Anbiederung an ein tatsächlich jüngeres Publikum, sondern allenfalls Ausdruck von Pragmatismus.

Wie sich das Angebot in der Seegemeinde weiterentwickeln, ob es beim jährlichen Termin bleiben wird, ist offen. Aufwand und Nachfrage müssen zusammenpassen, denn die Feier im Grünen bedeutet mehr Aufwand und bietet ein deutlich umfangreicheres Programm. Und dann ist da noch das Wetter. Was die Bissinger seit jeher zusammenschweißt, ist nicht nur eine lebendige Dorfgemeinschaft, sondern auch Resilienz gegen alle Widrigkeiten des Alltags. Franziska Nägele fasst es kürzer: „Solange es nicht gerade Katzen hagelt, ist uns das doch völlig egal.“