Atmen ist Schwerstarbeit für Lenya, weshalb sie Unterstützung durch eine Maschine hat und eine Maske trägt. Die Achtjährige hat das Kongenitale Myasthene Syndrom, eine seltene genetische Krankheit, bei der die Übertragung von Nerven zu Muskeln gestört ist und die sich in Schüben verschlechtern kann. Lenya hat dauerhaft Schmerzen, muss teilweise künstlich ernährt werden und benötigt rund um die Uhr Pflege, erzählt ihre Mutter Sabine Fischer.
Rausgehen und mit anderen spielen – das ist nicht möglich. Wie viel Zeit der Familie, zu der auch Vater Arne Fischer und Lenyas zwölfjähriger Bruder gehören, noch bleibt, dafür gibt es keine genaue Prognose. Sie sprechen offen über den Tod. „Der liebe Gott bringt sein Pferd und nimmt mich mit“, erzählt Sabine Fischer, wie sich Lenya ihren Abschied ausmalt, im Himmel sei sie dann gesund. Die Familie versucht unterdessen, jeden Moment zu genießen. „Wir möchten ihr Glück geben, wo immer es geht“, sagt Sabine Fischer.
Dazu gehört auch der rund 30 Zentimeter große Roboter, den Jochen Keil, Leiter des Kreismedienzentrums Esslingen, an diesem Vormittag vorbeibringt. Keil erklärt Lenya, wie sie den Avatar, der offiziell AV1 heißt, von ihrem Tablet aus bedienen kann. „Sie möchte unbedingt Freundinnen haben“, erzählt ihre Mutter. Das kleine weiße Gerät, das per Tasteneingabe seinen Gesichtsausdruck verändern und den Blick wenden kann, soll ihr helfen, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Der Avatar soll künftig für Lenya in die dritte Klasse der Grundschule Aichwald gehen. Mitschüler werden das Gerät mit ins Klassenzimmer nehmen und es nach dem Schulschluss wieder aufladen, sofern nötig. Geht es Lenya gut, kann sie sich zuschalten und am Unterricht teilnehmen. Sobald das Roboterköpfchen leuchtet, ist sie dabei. Blinkt er grün, möchte sie etwas sagen, blau bedeutet, dass sie nicht ansprechbar ist, etwa weil es ihr gerade nicht gut geht.
Lenya ist sichtbar begeistert von dem Gerätekerl und bindet ihm erst mal ein Halstuch um, damit er ein bisschen mehr Persönlichkeit bekommt. Im Nu hat sie verstanden, wie alles funktioniert. Die Achtjährige ist clever. Obwohl sie nur von zu Hause und nur, wenn sie sich gut genug fühlt, unterrichtet wird, hält sie mühelos das Niveau der dritten Klasse, berichtet ihre Mutter. So vergnügt sie auch wirkt – wie sehr sie der Besuch anstrengt, merkt man ihr erst an, als sie plötzlich den Baldachin über ihrem Krankenbett nach unten klappt und darunter verschwindet. Es ist ihr Zeichen, dass sie nicht mehr kann und unbedingt Ruhe braucht.
Lenyas Avatar und zwei weitere hat der Verein der Palliativ-Care-Teams im Kreis Böblingen unter anderem mit Spenden finanziert. Der Verein erfüllt kranken Kindern in der Region letzte Wünsche und unterstützt ihre Familien. So hat Lenya noch ein weiteres Pflegebett bekommen, das ihr im Wohnzimmer mehr Teilhabe am Familienleben ermöglicht.
Insgesamt fünf Avatare stehen dem Kreismedienzentrum Esslingen somit zur Verfügung, die an Kinder und Jugendliche verliehen werden, wenn sie längere Zeit die Schule nicht mehr besuchen können. Die ersten beiden wurden mit Mitteln des Landkreises angeschafft, von denen einer seit einiger Zeit an der Kirchheimer Freihof-Realschule im Einsatz ist. Keil ist begeistert von der Technik, die so einfach wie wirkungsvoll sei. „Ich finde es magisch. Es ist eine richtige Interaktion möglich, obwohl das Kind nicht da ist“, sagt er, der Avatar mache die Kommunikation menschlicher und persönlicher. Kinder und Jugendliche hätten mit dem Avatar keinerlei Berührungsängste und er werde als Mitschüler akzeptiert. „Von Schülern kommt nie die Frage, warum wir nicht einfach einen Laptop mit Kamera benutzen“, berichtet Keil. Sie seien mit Digitalisierung aufgewachsen. „Avatar und Mitschüler – für sie ist das ein und dasselbe“, sagt der Medienexperte. Den kranken Mitschülern werde mit dieser aus Norwegen stammenden Idee sehr geholfen.
Avatare als kostenlose Leihgabe für Schulen
Mit Mitteln des Landkreises hat das Kreismedienzentrum zwei Avatare angeschafft, die bei Bedarf für einen bestimmten Zeitraum kostenlos an Schulen im Kreis verliehen werden. Familien, die Interesse haben, melden sich am besten zuerst bei ihrer Schulleitung. Jetzt sind drei weitere Geräte dazugekommen, die der Verein Palliativ-Care-Teams im Kreis Böblingen mit Spenden von Beschäftigten von Mercedes-Benz gekauft hat. Zusammen haben sie mit Garantie und einem Wartungsvertrag rund 22 000 Euro gekostet.
Die eingesetzten Avatare wurden von der norwegischen Firma No Isolation entwickelt. Die Geräte erfüllen alle Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung. Der Roboter, der von Menschenhand per App gesteuert wird und über eine Kamera und ein Mikrofon kommunizieren kann, ermöglicht soziale Interaktion.
Weil der Avatar mit einer Kamera ausgestattet ist, müssen aus Datenschutzgründen alle Schüler der Klasse und deren Eltern einwilligen. Sagt einer Nein, scheitert der Roboter-Einsatz. Bedenken, dass Daten in falsche Hände geraten, müsse man nicht haben, sagt Jochen Keil, Leiter des Kreismedienzentrums Esslingen: Die Technologie laufe über einen europäischen Server. Der Anwender könne auch nichts dokumentieren und ins Netz stellen. Wird etwa ein Screenshot gemacht, ist das Gerät automatisch gesperrt.
Bei den Lehrkräften rennt Jochen Keil spätestens dann offene Türen ein, wenn die feststellen, wie einfach die Bedienung ist. „Es ist nur ein Knopfdruck, man braucht keine Schulung und gar nichts“, versichert er. In Zeiten, in denen Lehrkräften und Schulleitungen immer mehr Aufgaben zugemutet würden, sei das entscheidend. pp