Wohin mit Unrat, Müll, Abfall? Was heute sorgfältig gesammelt, getrennt, recycelt wird, landete in früheren Jahrhunderten oft in der Latrine. Die nachlässige Wegwerfkultur erweist sich nun als Glücksfall: In der Esslinger Adlerstraße ermöglichte sie einen einzigartigen Fund, war beim jüngsten Altstadtviertele zu erfahren.
Ein Katzenskelett, eine Münze, unzählige Scherben, Teile von Keramiken: In die Latrine aus dem 13. und 14. Jahrhundert wurde achtlos alles hineingeworfen, was nicht mehr gebraucht wurde. Sie war bei Bauarbeiten in der Adlerstraße in der Esslinger Innenstadt im vergangenen Jahr entdeckt worden.
Diese Latrine sei besonders hochwertig, führte Jonathan Scheschkewitz vom Landesamt für Denkmalpflege beim Altstadtviertele im Alten Rathaus aus. Fest in die Erde eingemauert wurde das stabile Bauwerk aus zuvor schon einmal verwendeten Großquadern errichtet.
Die Funde lassen auf eine ansässige soziale Oberschicht, auf Patrizier, schließen.
Jonathan Scheschkewitz, Archäologe
Verstreut um die breiten Quadersteine der Latrine herum wurden in mühevoller Detailarbeit Scherben geborgen, die sich zu einer Sensation zusammensetzen ließen. Ein Fundstück entstand, das auch ein erfahrener Archäologe wie Jonathan Scheschkewitz als einzigartig bezeichnet. Ein Glas mit einem kämpferischen Dekor konnte fast vollständig zusammengesetzt werden. Lücken durch fehlende kleine Teilchen sind mit dem bloßen Auge kaum erkennbar.
Die Ornamentik des Glases ließ auch den Atem von Jonathan Scheschkewitz stocken: „Das habe ich so noch nicht gesehen“, sagt er. Zwei bewaffnete Reiter zu Pferde preschen in drohender Pose aufeinander zu. In einer durch Blätter und Pflanzen angedeuteten Landschaft zeichnet sich ein Kampf ab: Beide Kontrahenten tragen einen Schild, beide schwingen eine Waffe.
Auch in der Farbgebung sind die Streithähne klar voneinander zu unterscheiden: Einer trägt vor allem Grün, der andere bevorzugt Rot. Der rote Reiter hält einen Krummsäbel in der rechten Hand – bereit zum Zuschlagen. Die Art der Waffe, so Jonathan Scheschkewitz, deutet auf einen Sarazenen hin. Seiner Interpretation nach handelt es sich bei der Darstellung um einen Auszug aus einer Szene der Kreuzzüge. Im Zuge seiner Recherchen hat er ähnliche Reitermotive ausfindig gemacht, die mit der auf dem Glas korrespondieren. Jacques de Voragine etwa hat in einer Darstellung von 1348 eine ähnliche Kampfszene festgehalten. Auf Gläsern aber ist sie eine absolute Ausnahme.
Das Glas stammt aus Venedig
Über den Kämpfern ist bogenförmig eine Buchstabenreihe angebracht. Sie, so sagt Jonathan Scheschkewitz, hat mit der Darstellung auf dem Glas absolut nichts zu tun. „Wenn du zu Tische sitzt, denke zuerst an den Armen“, steht da übersetzt aus der lateinischen Sprache. Ein Hinweis auf den gehobenen sozialen Status der Besitzer des Glases. Denn die Adlerstraße muss im 13. und 14. Jahrhundert zu den gehobenen Esslinger Stadtquartieren gehört haben. Der finanzkräftige Teil der Einwohnerschaft residierte hier. Besiedelt wurde das Areal laut Scheschkewitz wohl seit dem späten zehnten bis zwölften Jahrhundert: „Die Funde lassen auf eine ansässige soziale Oberschicht, auf Patrizier, schließen.“
Wenn du zu Tische sitzt, denke zuerst an den Armen.
Inschrift auf dem historischen Glas
Sie konnten es sich leisten, mit Geschirr aus Italien in gehobener Atmosphäre zu dinieren. Denn das in der Adlerstraße gefundene Glas stammt nicht aus heimischer Produktion. Hergestellt wurde es wohl in Venedig. In den Archiven konnte im ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhundert eine umfangreiche Herstellungskultur nachgewiesen werden, so Scheschkewitz.
Allerdings musste der Archäologe ein wenig Wasser in den Wein gießen. Individuelle Einzelanfertigungen für anspruchsvolle Esslinger waren diese Gläser nicht: „Es war Massenware. Die Produktion erfolgte im großen Stil.“ Ein Glasbläser, so rechnet er vor, musste 25 Gläser bemalen, um auf seinen Tageslohn zu kommen. Dieses Lohngebaren entlarve die hohen Stückzahlen der Herstellung.
Massenware mag es gewesen sein. Aber Massenware, die sich nicht jeder leisten konnte. Nur einer oben in der sozialen Skala stehenden Oberschicht sei der Erwerb eines solchen Prunkpokals möglich gewesen, führt Jonathan Scheschkewitz aus.
Vergleichbare Artikel aus heimischer Produktion dieser Zeit waren weniger elegant. Bei den Grabungen in der Adlerstraße hatten die Archäologen auch Holzaschegläser entdeckt: Sie waren wohl in der Esslinger Umgebung aus der Asche verbrannten Buchenholzes hergestellt worden. Ein weniger stabiles Material, das einen leichten Grünstich aufweist. Die emaillierten Gläser aus Italien dagegen bestechen durch ihre heitere Formgebung und ihren gehobenen Schick.
Das Altstadtviertele
Das Altstadtviertele unter dem Dach des Esslinger Geschichts- und Altertumsvereins ist ein offener Bürgertreff, bei dem drei bis vier Mal im Jahr aktuelle, brisante Themen aufgegriffen werden.
Immer donnerstags ab 19 Uhr werden im Alten Rathaus Aufreger in kurzen Impulsreferaten vorgestellt und dann unter der Regie wechselnder Moderatorenteams im Plenum diskutiert.
Aktualität, Brisanz und Strittigkeit sind normalerweise die Auswahlkriterien für Themen des Altstadtvierteles, führte Moderatorin Christel Köhle-Hezinger aus. Doch bei der jüngsten Veranstaltung wurde eine Ausnahme gemacht: Der Vortrag von Jonathan Scheschkewitz sei so spektakulär, dass erstmals eben kein Politikum präsentiert wurde, sondern ein unterhaltsames Referat zur Esslinger Stadtgeschichte. ez

