Seyran Ates ist eine ebenso kluge wie couragierte Frau. Sie folgt einem klaren Wertekompass, sie tritt überzeugend und beharrlich für ihre Anliegen ein, und sie versteht es, auch anderen Menschen Mut zu machen, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen. Weil das nicht allen gefällt, wird die 59-Jährige von denen, die ihren Begriff von Freiheit und Gleichberechtigung nicht teilen, immer wieder scharf kritisiert, vielfach angefeindet und oftmals auch bedroht.
Trotzdem lebt sie mit jeder Faser ihre Überzeugung. Weil Seyran Ates für jenen politischen Mut steht, den die Stadt Esslingen mit ihrem Theodor-Haecker-Preis verbindet, erhält die Berliner Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Autorin am 24. März 2023 den mit 10 000 Euro dotierten internationalen Menschenrechtspreis.
Gegen Ungleichbehandlung
Im Alter von sechs Jahren kam Seyran Ates als Kind von Gastarbeitern nach Berlin. Ihre Mutter ist Türkin, ihr Vater war Kurde. „Das Aufwachsen in einer sehr traditionellen Großfamilie hat mich politisch sehr geprägt“, sagte sie später. „Insbesondere hat es dazu beigetragen, dass ich sehr früh angefangen habe, gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter zu kämpfen.“ Mit 17 Jahren büxte sie von zu Hause aus, um selbstbestimmt leben zu können.
Diese Erfahrungen haben sie später ermutigt, sich auch für andere Frauen und Mädchen einzusetzen, erzählt sie. Schon während ihres Studiums der Rechtswissenschaften hat Seyran Ates in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei gearbeitet, 1984 wurde sie bei einem politisch motivierten Anschlag lebensgefährlich verletzt. Diese Erfahrung hat sie weiter motiviert, sich zu Themen wie dem Kopftuch bei Musliminnen, Zwangsheirat, Ehrenmorden und Migrationsfragen klar zu positionieren.
„Ich stelle mir eine Gesellschaft gerne als ein Mosaik vor, welches durch einen Rahmen zusammengehalten wird“, sagt Seyran Ates. „Diesen Rahmen bilden unser Grundgesetz sowie die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Alle Mosaiksteine innerhalb dieses Rahmens sind ein Teil der Gesellschaft und Kultur eines Landes. In manchen Ländern ist das Mosaik bunter als in anderen. Wichtig ist, dass alle Mosaiksteine innerhalb des Rahmens bleiben. Ansonsten fällt die Gesellschaft auseinander, denn nichts hält sie mehr zusammen.“ Doch Ates weiß auch, dass nicht alle diese Haltung teilen. Dass sie wegen ihres Engagements für einen liberalen Islam unter Polizeischutz steht, ist für die 59-Jährige ein Argument mehr, vor Intoleranz und Gewalt nicht zurückzuweichen. Ihr Credo: Sonst hätten diejenigen, die Liberalität gegenüber ihrer Gesinnung einfordern, aber selbst am wenigsten Toleranz zeigen, ihr fragwürdiges Ziel erreicht.
Esslingen zeichnet Seyran Ates für ihr Engagement gegen die Diskriminierung und Unterdrückung von muslimischen Frauen aus. „Mit ihrer Arbeit ist sie seit vielen Jahren Hoffnungsträgerin für viele Mädchen, Frauen und Mitglieder der LGBTQ+- Community, die unter einem patriarchalischen Rollenverständnis und einer traditionellen Gesellschaftsstruktur leiden“, heißt es in einer Mitteilung des Rathauses. Ates wünsche sich einen friedlichen, demokratischen, gewalt- und diskriminierungsfreien Islam.
Deshalb hat sich die Anwältin, Autorin und Frauenrechtlerin für die Gründung einer alternativen Moschee in Berlin eingesetzt, und sie plädiert für eine zeitgemäße und geschlechtergerechte Auslegung des Koran sowie der Hadithen: „Ich träume von einer Moschee, in der alle Menschen zusammenkommen, die sich für den Islam interessieren und/oder daran glauben. Eine Moschee, in der es keine Geschlechterapartheid gibt und daher Männer und Frauen im selben wunderschönen Raum beten können. Das ist räumlich machbar. Der Mensch muss es nur wollen, wie alles andere im Leben auch.“
In den vergangenen Jahren positionierte sie sich auch in Fragen zur Migration. „Indem sie Seyran Ates den Theodor-Haecker-Preis zuerkennt, möchte die Stadt Esslingen unter anderem ein Bewusstsein dafür stärken, dass noch immer insbesondere junge Frauen von Diskriminierung und Unterdrückung, von Zwangsheirat, häuslicher Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre bis hin zum Ehrenmord bedroht sind – auch in Deutschland“, heißt es im Rathaus.
Die mit 1500 Euro dotierte Ehrengabe wird anlässlich der Feier zum Theodor-Haecker-Preis an den Stuttgarter Verein Esther Ministries verliehen. „Der einmalige Ansatz des Vereins gab dabei den Ausschlag für die Entscheidung – sein Engagement gegen Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung umfasst viel mehr als Unterstützung und Aufklärung“, wird diese Auszeichnung begründet. „Vor allem hilft Esther Ministries mit einem breiten Nachsorgeangebot den Opfern und bietet echte Alternativen und Chancen, nachhaltig aus dem Rotlichtmilieu auszusteigen und ein eigenständiges Leben nach der Prostitution führen zu können.“
Der Theodor-Haecker-Preis
Namensgeber: Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Haecker zählte zu den radikalsten Kulturkritikern der Weimarer Republik. Er wurde 1879 in Eberbach geboren und lebte lange Jahre in Esslingen. Sein wichtigstes Werk, die „Tag- und Nachtbücher“, dokumentieren die klare Haltung eines Intellektuellen gegen den Nationalsozialismus. Haecker inspirierte mit seinen Gedanken den Widerstand der Weißen Rose gegen das NS-Regime, er gilt als Mentor von Hans und Sophie Scholl.
Preis: Zum Andenken an Haecker sowie mit Blick auf eine leidvolle deutsche Vergangenheit und auf die schwierige Menschenrechtssituation in zahlreichen Ländern dieser Welt vergibt die Stadt Esslingen seit 1995 den mit 10 000 Euro dotierten Theodor-Haecker-Preis. Dieser internationale Menschenrechtspreis für politischen Mut wird alle drei Jahre „an eine Person oder Gruppe des öffentlichen Lebens verliehen, die sich in herausragender Weise um Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Frieden und Menschlichkeit bemüht und deren Werk der Tradition Haeckers würdig ist“.
Ehrengabe: Zusätzlich zum Haecker-Preis würdigt eine Ehrengabe „eine Person oder Gruppe, die sich auf besondere Weise mit Themen wie Radikalismus, Gewalt, Frieden oder Diktatur auseinandergesetzt hat“. Die Ehrengabe ist mit 1500 Euro dotiert und soll an Menschen gehen, die sich in Deutschland engagieren. Der Fokus liegt auf der Region Stuttgart und dem süddeutschen Raum.