Es ist das fünfte Mal, dass die Kartoffel von der Gabel rutscht und neben dem Teller landet. Dort bleibt sie inmitten eines Schlachtfelds von Fleisch, anderen Kartoffeln und Salat liegen. Ich gebe auf und pfeffre auch noch Messer und Gabel mitten in das Chaos. Mein Glück: Das Ganze ist nur eine Simulation. Die Kartoffeln bestehen aus gelben Papierbällchen, und die Teller existieren nur in einer hölzernen Spiegelbox. Trotzdem: Zurück bleibt das frustrierende Gefühl, es einfach nicht geschafft zu haben – mal wieder. Denn das „Mittagessen“ ist nur eine von 13 Stationen des Demenz-Parcours „Hands on Dementia“, den das Soziale Netz Raum Weilheim bei den „Aktionstagen Demenz“ in Weilheim aufbaut. Der interaktive Parcours simuliert einen Tag im Leben der an Demenz erkrankten Erna Müller – vom Aufstehen und Anziehen über einen Ausflug in die Stadt und die täglichen Hausarbeit bis zum Schlafengehen. Wer in ihre Rolle schlüpfen möchte, hat am Samstag, 24. September, von 11 bis 15 Uhr während des Zähringermarkts in der Hölderlinstube des Weilheimer Bürgerhauses Gelegenheit dazu. Ganz wichtig: Der Parcours eignet sich nur für Menschen ohne Demenz.
„Zu den Symptomen der Demenz gehören Wortfindungsstörungen, die Beeinträchtigung der Merkfähigkeit und Probleme bei Handlungen des Alltags“, erklärt Rosemarie Bühler, Leiterin der Koordinationsstelle des Sozialen Netzes Raum Weilheim. Das löst bei Betroffenen unterschiedliche, teilweise intensive Empfindungen aus. Wie es sich anfühlt, wenn dauernd etwas von der Gabel fällt, man den Weg durch die Straßen nicht mehr findet oder keine Knöpfe mehr schließen kann, lässt sich für Angehörige, aber auch Pflegepersonal oft schwer nachvollziehen. „Aber Verstehen ist der Schlüssel zur Welt der Demenzkranken“, betont Rosemarie Bühler. Genau dabei soll der Demenz-Parcours „Hands on Dementia“ helfen.
„Ursprünglich wollten wir den Parcours nur ausleihen“, erzählt Rosemarie Bühler. Dann aber fand sich mit der „Karl und Elisabeth Fischer Weilheim Stiftung“ ein Sponsor für die 13 Stationen. Der Krankenpflegeverein Weilheim legte noch etwas obendrauf, so dass der Verein jetzt auch mit bunten Aufstellern auf den Parcours aufmerksam machen kann.
Ein paar Mal haben sich die Mitarbeiter des Sozialen Netzes schon an den hölzernen Spiegelkisten, Alltagsgegenständen und Begleitheften versucht. Am Samstag ist der Parcours aber erstmals öffentlich zugänglich. In Zukunft verleiht ihn das Soziale Netz auch gegen Gebühr an andere Vereine, Kirchen oder Unternehmen aus der Region.
Malen in der Spiegelbox
Kopfschüttelnd blickt Christian Birzele-Unger auf das Blatt, das er in den Händen hält: Ein krakeliges Gesicht, eine schiefe Sonne und kaum erkennbare Sterne hat er darauf gezeichnet. „Und dabei habe ich mal Kunst studiert“, sagt der Erste Vorsitzende des Sozialen Netzes resigniert. Er testet den Parcours an diesem Abend zum ersten Mal. Essen oder Malen in der Spiegelbox – ein Unding. „Ich weiß doch, dass alles spiegelverkehrt ist. Warum kann ich das jetzt nicht?“ fragt er irgendwann entnervt.
Steffi Luik, eine Unterstützerin des Sozialen Netzes, kämpft mit dem „Abendessen“: Sie muss in der Spiegelbox verschiedenfarbige „Obst“-Murmeln in Becher befördern. „Man möchte eine Strategie entwickeln, aber es geht einfach nicht“, stellt sie fest. Ein paar Stationen weiter schlüpft Sybille Berchtold, Mitarbeiterin des Besuchsdiensts, in einen bunten Kittelschurz und versucht – ausgerüstet mit Arbeitshandschuhen – die Knöpfe innerhalb von 36 Sekunden zu schließen. „Die gehen immer wieder auf“, ärgert sie sich. Das Gefühl des Scheiterns, die Hilflosigkeit, Resignation oder Wut darüber, Dinge nicht mehr zu können oder zu wissen –was die Parcours-Tester an diesem Abend durchlaufen, erleben Menschen mit einer Demenzerkrankung täglich.
Verständnis und Humor
Gegenstände einprägen und sie – mit einer trüben Brille auf der Nase – während eine Ballspiels nennen? Das kriege ich am Testabend im Rathausfoyer noch hin. Einkaufspreise in Spiegelschrift lesen und merken oder Verkehrsschilder in der Spiegelbox auf ein Blatt mit einer Straßenkreuzung aufzeichnen? Unglaublich anstrengend. Nicht nur bei einer Station werfe ich das Handtuch. „Ich glaube, ich würde mit einer Demenzerkrankung nicht gut klarkommen“, rutscht es mir heraus. Rosemarie Bühler nickt wissend. „Wenn es uns mal erwischt, dann können wir nur darauf hoffen, dass wir verständnisvolle Menschen um uns haben“, sagt sie. Hilfreich auch – vor allem für Angehörige: eine gute Portion Humor.
215.000 Menschen sind in Baden-Württemberg von Demenz betroffen. In Deutschland sind es 1,8 Millionen, weltweit rund 55 Millionen.
„Aktionstage Demenz“ starten heute
Mit vier Veranstaltungen möchte das Soziale Netz Raum Weilheim bei den „Aktionstagen Demenz“ rund um die Erkrankung aufklären.
Am Freitag, 23. September, fragt der SPD-Landtagsabgeordnete Andreas Kenner, langjähriger Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dientes für alte Menschen, um 19.30 Uhr in der Brasserie Weilheim unter dem Titel „Kenner trinken Württemberger“: Helfen Wein, Weib und Gesang tatsächlich gegen Demenz?
Am Samstag, 24. September, von 11 bis 15 Uhr können Interessierte den Demenz-Parcours während des Zähringermarkts im Bürgerhaus testen.
Am Dienstag, 27. September, um 19 Uhr spricht Silvia Kern, Demenzexpertin und zweite Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in der Mörikestube im Bürgerhaus unter dem Titel „Walter W. wird wunderlich“ über das Leben mit einer Demenz.
Am Mittwoch, 5. Oktober, von 18 bis 21 Uhr findet in der Mörikestube im Bürgerhaus Weilheim ein dreistündiger Kurs „Erste Hilfe Demenz“ statt. Hartwig von Kutschenbach, erster Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft, vermittelt darin Basiswissen für Mitarbeitende in Vereinen, Angehörige und Interessierte.