Als bei Eva Spahrs Sohn Autismus diagnostiziert wurde, empfand sie dies zunächst als eine Erleichterung für die Familie. Doch damit begann ein langer und steiniger Weg. Hilfe von außen gab es kaum. Im Internet stieß sie dann auf eine Selbsthilfegruppe in Reutlingen, die ihr vorschlug, eine Gruppe für den Esslinger Landkreis zu gründen. Gesagt, getan:
2016 rief sie eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von autistischen Kindern ins Leben. Seitdem trifft man sich jeden vierten Donnerstag in der Seegrasspinnerei und teilt Erfahrungen. „Als aufgeklärte Frau dachte ich mir nach der Diagnose meines Sohnes, dass wir jetzt mehr wissen und auch Hilfe bekommen werden, aber es gab nichts im Landkreis Esslingen“, blickt Eva Spahr zurück.
Gruppe ist gut besucht
Schnell wurde klar, dass es auch in Nürtingen und dem Umland einen riesengroßen Bedarf für eine solche Gruppe gibt. Mittlerweile sind rund 60 Eltern und Angehörige in Eva Spahrs E-Mail-Verteiler. Davon kämen natürlich nicht alle regelmäßig: „Mal ist der Bedarf bei den Eltern für Hilfe oder ein Gespräch höher, mal niedriger. Im Schnitt sind wir um die zehn Eltern bei jedem Treffen, mehr würde für uns auch keinen Sinn ergeben, da der Dialog bei uns im Vordergrund steht.“
Daniela Möschter, die seit 2018 dabei ist und mittlerweile Eva Spahr bei der Leitung der Gruppe hilft, erklärt auch, dass man sich vor allem für Neuankömmlinge sehr viel Zeit nehmen müsse. Dazu kommt auch der organisatorische Aufwand, denn die Selbsthilfegruppe ist kein eingetragener Verein, was einiges erschwert. Inzwischen läuft die Gruppe über „Autismus Dialog“, einem Kooperationsnetzwerk für Autisten. Wichtig ist den beiden Müttern auch, dass alle in die Gruppe kommen können – mit oder ohne ärztliche Autismus-Diagnose des Kindes.
Autismus verstehen
„Als Elternteil merkt man, dass mit seinem Kind etwas anders ist. Auf dem Spielplatz fragt man sich zum Beispiel, warum man mit seinem Kind einfach nur daneben steht“, erzählt Eva Spahr. Deshalb ist es ihnen wichtig, dass ihre Gruppe auch dabei hilft, Autismus zu verstehen. Oft werde der als Krankheit dargestellt: „Das ist aber eigentlich falsch“, betont Eva Spahr. Autismus sei nämlich eine seelische Behinderung, die bei jedem Betroffenen komplett anders zur Geltung kommt, weshalb auch oft von Autismus-Spektrum-Störungen die Rede ist.
Meist ist es die Wahrnehmung, die sich bei Autisten mit der von Nicht-Autisten unterscheidet. Dabei kann es sich um die Wahrnehmung von Geräuschen, Farben, Licht oder auch die Empfindung von Kälte und Wärme handeln. Eva Spahr erklärt, dass man sich vorstellen muss, dass das Gehirn dann anders funktioniert, die Synapsen seien anders vernetzt. Oft scheint es, als ob die Betroffenen in ihrer eigenen Welt leben würden. Dies führt dazu, dass sie Schwierigkeiten damit haben, mit anderen Menschen umzugehen.
Vor allem unter Stress fallen Autisten auf
Wie unterschiedlich Autismus sein kann, berichtet Eva Spahr auch aus eigener Erfahrung. Ihr Mann ist auch Autist, wurde aber erst in der Schule auffällig, ihr Sohn schon im Kindergarten. Als mögliche Erklärung hierfür sieht sie auch den Leistungsdruck, den es mittlerweile schon im Kindergarten gebe. Viele Autisten werden vor allem unter Stress auffällig. Dass heutzutage Kinder schon im Kindergarten bewertet werden würden, helfe hierbei nicht.
Immer mehr Menschen werden mittlerweile mit Autismus diagnostiziert, oft wird er auch fälschlicherweise als „Modekrankheit“ abgeschrieben, erzählt Eva Spahr. Sie ist aber in der Lage, andere Gründe hinter den ansteigenden Zahlen zu nennen. Die Einflüsse aus der Umwelt auf die Menschen würden immer mehr werden. Man ist vernetzter, überall ist Bewegung und Betrieb, auch leben mittlerweile viel mehr Leute in Städten. Das alles führe dazu, dass die Betroffenen deutlich auffälliger werden. Die Zeit der Pandemie war zum Beispiel sehr angenehm für Eltern und ihre autistischen Kindern, erklären die beiden. Viele autistische Kinder besuchten zum Beispiel immer noch den Onlineunterricht. So gelte für den britischen Psychologe Tony Atwood ein Autist geheilt, wenn er in einem guten, für ihn passenden Umfeld sei. Erst wenn man ihn dort herausziehen würde, werde er autistisch, erklärt Eva Spahr.
Die Bürokratie raubt vielen Eltern die letzte Kraft
Doch die Behinderung an sich ist nur ein Teil der Probleme, mit denen die Leute in die Selbsthilfegruppe kommen. Der bürokratische Aufwand sei auch riesig: „Oft kostet die Bürokratie mehr Aufwand als unsere Kinder“, erzählt Eva Spahr. Man müsse zum Beispiel jährlich viele Anträge auf Beihilfe stellen, auch der Weg zur Diagnose sei aufwendig, so wie die Beantragung von Behindertenausweisen. Viele Leute würden kapitulieren, da sie neben der Erziehung der Kinder und der eigenen Arbeit oft keine Kraft mehr für die ganze Bürokratie finden würden. Das will Eva Spahr verhindern, oft hilft sie deshalb anderen Eltern auch bei den Anträgen: „Wenn wir einen Antrag fertig formuliert haben, sage ich immer, dass wir uns dann ja bald wieder sehen, da wir dann als nächstes einen Widerspruch auf die Ablehnung des Antrages schreiben müssen.“ Oft unterscheiden sich die Formalien auch von Landkreis zu Landkreis.
Das Problem mit einem Gutachten
Ein großes Problem sei auch, dass man jedes Jahr eine neue Diagnose von einem Gutachter brauche. Unsinnig bei einer unheilbaren seelischen Behinderung, findet Eva Spahr: „Das ganze Jahr erkläre ich meinem Sohn, dass er anders ist und was er alles trotzdem gut kann, nur um dann mit ihm zu einem Gutachter zu gehen, der dann ausschließlich darüber redet, was mein Sohn nicht kann und was an ihm schlecht ist.“
Hier müsse sich in den Augen von den beiden Müttern in Deutschland einiges ändern. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Irland, ist der Autismus viel mehr im Bewusstsein der Bevölkerung. Hier gibt es in vielen Supermärkten eine „Stille Stunde“ für Autisten zum Einkaufen. Wer hier kommt, muss leise sein, auch sind die Lichter gedämpft und es läuft keine Musik. „Hier gab es das auch mal, nur zur Mittagszeit halt. Man ging davon aus, dass, alle Autisten arbeitslos sind. Das sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge.“ Trotzdem bewege sich etwas in Deutschland, aus der Sicht von Eva Spahr, nur zu langsam und zu leise.
Die Selbsthilfegruppe für Angehörige autistischer Kinder trifft sich jeden vierten Donnerstag im Monat (außer in den Ferien) ab 19.30 Uhr im Tagungsraum des Freien Kinderhauses (Seegrasspinnerei), Plochinger Straße 14 in Nürtingen. Kontakt: eva.spahr@autismus-dialog.de.