Die Dämmerung kriecht heran, legt sich bereits leicht über die historischen Gebäude des Areals, als Architektin Pia Maier Schriever über das Areal der Neckarspinnerei führt. Schriever ist Teilhaberin des Berliner Architekturbüros Rustler Schriever, das den städtebaulichen Wettbewerb im Frühjahr für sich entschieden hat. Nun ist die Architektin regelmäßig in Wendlingen, um gemeinsam mit der Firma HOS, der Eigentümerin des Geländes, und der Stadt Wendlingen den Bebauungsplan abzustimmen.
Mit dem Verkehrskonzept beginnt der Rundgang. Es wird ein Quartiersparkhaus für die Anwohner und Mitarbeiter geben, das auf Höhe der heutigen Wohnhäuser entlang der Landesstraße entstehen soll. Mit dem Parkhaus soll der Verkehr aus dem Quartier herausgehalten werden. Allerdings muss Anlieferverkehr möglich sein. Die Zufahrt dafür befindet sich genau dort, wo man auch heute schon ins Quartier hineinfährt. Damit die Bewohner der Neckarspinnerei auch ohne eigenes Auto nach Wendlingen oder zum Bahnhof kommen, wird die Linie 155 einen Schlenker fahren und erhält eine Bushaltestelle im Areal.
Und die Radfahrer? „Die schnellen Radler nutzen den Weg, der auch heute schon um das Quartier herumführt. Doch die heikle Auffahrt mit dem Schlenker auf den Radweg entlang der Landesstraße entfällt. Hier geht es künftig einfach geradeaus weiter“, beschreibt Pia Schriever die Veränderung. Radler teilen sich allerdings die Zufahrtsstraße zur Neckarspinnerei mit den Anlieferern und dem Bus. Das scheint eher nicht ideal zu sein, wie und ob es funktioniert, muss sich aber in der Praxis zeigen.
Der Spinnerei-Hochbau ist das nächste Ziel des Rundgangs mit Architektin Schriever. Der mächtige Industriebau aus markanten roten Ziegeln und Uracher Tuffgestein dominiert den Gebäudebestand. Hier hat die Firma HOS eine Menge vor. Gewerbe und Wohnen unter einem Dach soll verwirklicht werden. So wird es im Erdgeschoss neben den Luxorette-Verkaufsräumen eine Kantine geben, in der die Mitarbeiter und Bewohner des Areals, aber auch Menschen von außerhalb, essen können. Betrieben wird die Kantine von „Leben inklusiv“, wie die Behindertenförderung Linsenhofen nun heißt. Gut eignet sich die Kantine aber auch für Veranstaltungen, die im Areal immer wieder stattfinden sollen. Denn Kunst und Kreativität sollen im Quartier Raum erhalten.
„Leben inklusiv“ wird auch seine Werkstätten von Oberboihingen nach Unterboihingen transferieren. Für sie wird im ersten Obergeschoss des Hochbaus Platz geschaffen. Im Stockwerk darüber sind Büroräume geplant. Für Dauermieter oder als sogenannter Co-Working-Space, der stunden- oder tageweise angemietet werden kann. Hier könnte einer der Mieter tatsächlich der Kreisjugendring sein, der im Moment Räume im alten Bahnhofsgebäude in Wendlingen hat. Im Dachgeschoss hingegen sind Wohnungen eingeplant. Kommt dort wohl genügend Licht hinein? Eine Frage, die sich aufdrängt, schaut man von außen auf die kleinen Fensterchen. Die Architektin führt hinauf ins Dachgeschoss und dort ist es erstaunlich hell. „Durch die Oberlichter kommt noch zusätzlich Licht in die Wohnungen“, sagt Schriever und deutet auf die Dachfenster.
Generationsübergreifende WG
Im Wohngeschoss ist ein besonderes Konzept geplant. Kleine Einheiten, mit Bad und Küchenzeile, die langfristig oder auch nur für einige Tage oder Wochen angemietet werden können, sollen hier entstehen. Ein zentraler Gemeinschaftsraum steht allen Bewohnern offen, ebenso eine große Küche, in der man gemeinsam kocht. Die Idee dahinter ist, Raum für generationenübergreifendes Wohnen zu schaffen. „Alt und Jung, die sich gegenseitig unterstützen, teilen sich ein Stockwerk im Spinnerei-Hochbau“, sagt Schriever.
Photovoltaik wird im Quartier, das auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, natürlich eine Rolle spielen, auf dem Dach des Hochbaus allerdings nicht. Wichtig für die Energieversorgung insgesamt soll aber die Wasserkraft sein. Die gibt es auf dem Areal bereits seit 1861. Zwei Turbinen aus dem Jahr 1936 sind immer noch in Betrieb, eine weitere kam 1983 dazu. Ebenfalls wiederentdeckt hat man für das Quartier den Eisspeicher, der unweit der Wasserkraftanlage gebaut werden soll. Er soll mit einer Höhe von zehn bis zwölf Metern und einem Durchmesser von 18 Metern beachtliche Dimensionen haben. Eiswasserspeicher gab es früher in Molkereien und Brauereien.