Tiina Kirsi Kern hat sich auf deutsche Literatur gesetzt. Es liegt nicht etwa ein Wälzer von Goethe in Buchform unter dem Gesäß der Schwäbin mit finnischen Wurzeln, sondern ein Kissen. In das hat sie Kassettenbänder auf der einst Literatur zu hören war, eingewebt. „Ich arbeite mit dem was schon da ist“, sagt die Nürtinger Kunsthandwerkerin, die sich selbst "Artepreneur“ nennt. Für ihre Kassettenbänderarbeit wurde sie bei den „Iconic Awards 2023: Innovative Interior“ als Gewinnerin in der Kategorie Produktdesign – Textilien ausgezeichnet.
Kern hebt das blaue Kissen hoch, auf dem sie saß. Es liegt auf einem weißen Kaffeehausstuhl, den sie neben drei weiteren Stühlen für die Bundesgartenschau in Mannheim gefertigt hat. Dort sind die Stühle um den „Tisch der Nationen“ im Spinelli-Park platziert. Insgesamt 193 Stühle für jeden Teilnehmerstaat der Vereinten Nationen haben dafür verschiedene Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerker geschaffen, der mit dem blauen Kissen von Kern ist für Finnland.
Ihren großen Flachwebstuhl hat sie nicht mit nach Mannheim mitgenommen. Der steht seit knapp 25 Jahren im Erdgeschoss ihres Ateliers „Haus 4“ am Schlossberg in Nürtingen. Kern zeigt, wie sie die Kassettenbänder in eine Spule des Webschiffchens gewickelt hat und als Schussmaterial verwendet. Der Schuss, das sind die Fäden, die von einer Webkante zur anderen durch die gesamte Webbreite eingezogen werden. Je nach Kissen webt sie Wolle oder Leinen mit ein oder es dominieren die Kassettenbänder. Wie bei den Märchengeschichtenkissen. Für diese hat sie Kassetten mit Märchenbändern verarbeitet. Dabei verlasse sie sich auf die Inhaltsangaben der Leute, die ihr die Kassetten – Kisten davon sind in ihrem Lager – schenkten. „Ich habe nicht die Zeit, alle abzuhören“, sagt sie. Doch eines Tages habe sie welche mit Rosenkranzgebeten bekommen und sei neugierig geworden. Um sie anzuhören, hat sie sich einen Kassettenrekorder gekauft. „Das Abspielgerät hat die Stimme verzerrt und es klang obergruselig“, erzählt sie. Sie beschloss, daraus eine Art Buch zu weben.
Wandbehang als Erstwerk
Kern klappt ein 110 cm breites und 50 cm hohes Kissen auseinander, in dem sich der Sprechgesang findet. „Gebetsbuch“, hat sie es genannt. Vier weitere Kissen liegen daneben, darunter der „Wälzer“ und ein rotes mit dem Titel „Liederbuch“. Bei der Namensgebung orientiert sie sich an den verarbeiteten Bändern. Zum Schluss füllt sie die Kissen mit Recyclingwatte aus PET-Flaschen. Rund zehn hat sie bislang verkauft. Aus den leeren Kassettenhüllen macht sie eine Art Wandbehang. Da hängen Titel wie „Guten Morgen liebe Sorgen“, „Mein Vater war ein Wandersmann“ oder Peter Hofmanns „Rock classic“ unter- und nebeneinander.
Auf die Idee zu ihren „tapeworks“ – den Namen hat sie sich schützen lassen –, kam die Kunsthandwerkerin während der Coronazeit. 2020 war sie mit dem Bachelor für Kultur- und Medienmanagement fertig, den sie als Fernstudium absolviert hatte. „Das Thema lebenslanges Lernen begleitet mich“, sagt die fünffache Großmutter. Sie hatte bereits 1999 ein Studium an der Freien Kunstschule Nürtingen, der heutigen Freien Kunstakademie Nürtingen, beendet. Ihre Ambitionen beruflich mit dem Bachelorabschluss etwas zu machen, wurden durch Corona ausgebremst. Sie überlegte sich, was die Menschen brauchen könnten. Sie sei zunächst auf Kleider gekommen, habe dann aber an ihr vorheriges Schaffen im Wohnbereich angeknüpft, als sie auf ihre alten Kassetten mit Ballett- und Jazzmusik gestoßen sei. Sie zeigt auf einen Wandbehang, ihr erstes Werk. In ihm hat sie ihre Musikkassetten verwebt.
„Das Kassettenband ist ein Material mit Charakter, in dem eine Wertschätzung wabert“, sagt Kern. Viele trennten sich nicht von ihnen, weil Erinnerungen damit verbunden seien. Durch ihr Weiterverarbeiten in Kissen, Polstern, Wand- und Vorhängen würden sie neu gewürdigt. „Ich versuche aus Dingen alles herauszulocken, was in ihnen steckt“, sagt sie. Und die Kassettenbänder seien unverwüstlich. Die Aufnahmen auf den Bändern blieben gespeichert. Theoretisch sei es denkbar, wenn man einen Tonkopf an den Bändern vorbeiführte, diesen einen Ton zu entlocken, erzählt sie. Das habe ihr ein Radiomoderator gesagt. Wahrscheinlich nicht mehr Literatur zum Verstehen, aber immerhin ein Geräusch.