Unterensingen. Stimmen sollen ihn angestiftet haben. Dämonen, so hatte der Angeklagte behauptet, hätten ihm befohlen, am 21. Mai vergangenen Jahres in Unterensingen den Vater seiner Lebensgefährtin und einen Passanten lebensbedrohlich mit Messerstichen zu verletzen. Für diese Taten muss er sich seit Anfang Dezember vor dem Landgericht Stuttgart verantworten. Am Donnerstag wurden die Plädoyers gehalten.
In seinem Schlusswort drückte der Angeklagte tiefes Bedauern aus. Er bete täglich und bitte auch seine Opfer um Vergebung, sagte der 32-Jährige. Er habe nie die Absicht gehabt, jemanden zu töten. Der Oberstaatsanwalt Matthias Schweitzer beurteilte die Taten indes anders. Er sprach von einem enormen Aggressionspotenzial und einem „absoluten Vernichtungswillen“.
Im vergangenen Mai habe sich der Angeklagte in seiner Unterkunft mit seiner Partnerin getroffen, rekonstruierte der Staatsanwalt die Taten. Da Geld für Zigaretten fehlte, wollte das Paar in der Wohnung, in der die junge Frau zusammen mit ihrem Vater lebt, ein Portemonnaie holen. Der Angeklagte sei mitgegangen, obwohl der Vater seiner Partnerin ihn ablehnte und ihm Hausverbot erteilt hatte. Im Flur des Hauses sei es dann zu einer Auseinandersetzung gekommen.
Ob der Vater seine Tochter und den Angeklagten mit einer Eisenstange bedroht hat, sei von einigen Zeugen bestätigt, von anderen bestritten worden. Eine später aufgefundene Stange sei aber lediglich 250 Gramm schwer gewesen. Daher sei das Verhalten des Angeklagten, sollte die Stange wirklich zum Einsatz gekommen sein, „unverhältnismäßig“ gewesen. Denn er habe mit einem Klappmesser zwei Mal auf den Vater seiner Freundin eingestochen und erst von ihm abgelassen, als Hausbewohner dazwischen gingen.
Der Angeklagte sei dann auf die Straße gerannt und habe auf einen unschuldigen Passanten 13 Mal eingestochen und eingetreten. Sogar als der Mann bereits am Boden lag, habe der Angeklagte nicht von ihm abgelassen. Der Passant sei aus einer Metzgerei gekommen und habe mit einer Tüte in der einen und einer Anti-Corona-Maske in der anderen Hand die Straße überquert: „Arg- und wehrloser kann ein Mensch nicht sein.“ Daher forderte der Oberstaatsanwalt wegen versuchten Mordes und versuchten Totschlags jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren.
Verteidiger spricht von Notwehr
Der Verteidiger Dirk Häuser baute sein Plädoyer auf drei Säulen auf. Er sprach dem Vater der Partnerin des Angeklagten ein Hausrecht ab. Der Geschädigte besitze das Haus nicht, sondern lebe darin lediglich in einer Wohnung. Von einer Verletzung des Hausrechts durch den Angeklagten könne demnach keine Rede sein. Auch habe der 32-Jährige in Notwehr gehandelt, weil der Mann ihn mit einer Eisenstange bedroht habe. Der Vater seiner Partnerin sei schon einmal mit einem anderen Gegenstand auf ihn losgegangen und habe seine Tochter mehrfach geschlagen – daher sei eine Notwehrsituation gegeben, für die der Angeklagte nicht belangt werden könne.
Nach den Messerstichen gegen den Vater seiner Partnerin habe er sich in einem „Affekttunnel“ und in äußerster Erregung befunden. In diesem Zustand sei er auf den Passanten getroffen. Objektiv hätten die Messerstiche tödlich sein können, doch subjektiv habe der Angeklagte aus seiner Perspektive heraus und in seinem emotionalen Ausnahmezustand sein Verhalten nicht als tödliche Bedrohung erkannt. Nach einer dreitägigen Flucht habe sich der Angeklagte freiwillig gestellt. Bei seiner Festnahme und vor Gericht sei er ein ruhiger Mensch gewesen. Angesichts des aus seiner Sicht nicht geltenden Hausrechts, der Notwehrsituation und des Ausnahmezustands forderte Dirk Häuser eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Simone Weiß