Als Jörg Endriss 1994 mit 20 Jahren von Plochingen aus erstmals für längere Zeit nach China reiste, wurde er von den Einheimischen bemitleidet. „Wer alleine unterwegs war, besonders in so jungem Alter, musste doch einsam sein, vermuteten viele, oder Probleme mit der Familie haben“, schreiben er und seine Kollegin Sonja Maaß im Vorwort ihres neuen Buches. Bei ihrer Recherche vergangenes Jahr haben sie dann junge Chinesen getroffen, die wie einst Endriss als Rucksackreisende das Land durchstreiften. Drei Monate lang sprachen die Journalisten mit der Generation der 20-Jährigen, die nicht selten Probleme mit der Familie haben. In 30 Porträts in „Chinakinder - Moderne Rebellen in einer alten Welt“ zeigt sich der Wille vieler junger Chinesen, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, im Konflikt mit der Generation ihrer Eltern.
Mit nur zweimal umsteigen ist Endriss einst vom Plochinger Bahnhof aus mit dem Zug nach Peking gereist. Der erste Wechsel war in Karlsruhe, der zweite in Moskau. „1994 war es eine spannende Angelegenheit, weil der Ostblock im Umbruch war“, erinnert sich der heute 44-Jährige. Der Zug ab Moskau war voll, Endriss erzählt von Händlern aus Russland und Rumänien, tschechischen Studenten und Chinesen, die Pekinesen nach Peking schmuggelten, weil diese Hunde dort nicht erlaubt waren. „Alle wussten, dass sie sechs Tage in diesem Zug bleiben würden. Von daher war gleich, wenn man reinkam, gute Stimmung, und die Leute haben angefangen, miteinander zu sprechen.“ 2009, in der Zeit von Billigfliegern und Containerhandel, wollte Endriss wissen, wer noch mit dem Zug fährt. „Es war recht leer damals. Es waren hauptsächlich Touristen, die da mitgefahren sind.“ Eine zentrale Verbindungsader sei die Strecke nicht mehr gewesen.
Auch die Menschen waren andere. Während er früher noch wie ein Außerirdischer angesehen worden sei, hätten seine Gesprächspartner auf späteren Reisen besser über Deutschland und Weltereignisse Bescheid gewusst. „Man traf immer mehr Leute, die selber mehr Fragen gestellt haben oder versucht haben, eigene Wege zu gehen.“ Das sei mit Anlass gewesen, gerade unter jungen Leuten für das Buch zu recherchieren. Das Programm Grenzgänger der Robert-Bosch-Stiftung hat das Projekt möglich gemacht.
Was Endriss und Maaß in ihrem Buch zeichnen, ist ein China, das nicht auf die Aspekte Umweltverschmutzung und Verletzung der Menschenrechte reduziert wird - die Schlagworte, die den meisten Deutschen zu dem Land einfallen, wie die Autoren schreiben. Die 30 Porträts handeln von einer bunten Gesellschaft, deren Jugend sich von traditionellen Zwängen auf ganz unterschiedliche Art emanzipiert. Dabei sind auch die Ausgangspunkte der Interviewpartner so unterschiedlich, wie sie nur sein können.
Da reist eine Rucksacktouristin alleine nach Lhasa und unterbricht dafür gegen den Willen der Eltern ihr Studium. Ran Qiaofeng, der vom Land kommt und die Schule abgebrochen hat, hat dagegen gar nicht die Möglichkeit, zu studieren. Er steht 27 Tage im Monat acht Stunden am Fließband und schreibt danach Gedichte über Löhne, Arbeitsunfälle, das „Leben in Ketten“, wie eines seiner Stücke heißt. „Der Arbeiterdichter war eigentlich mit einer der Beeindruckendsten“, sagt Endriss. Er sei in der Analyse der ganzen Situation noch viel klarer gewesen, als mancher, der studiert hat.
An manchen Stellen des Buches - etwa wenn der voll tätowierte Punk in jedem zweiten Satz den Ausdruck „Fuck“ benutzt oder sich junge Städterinnen für ihren Onlineauftritt professionell fotografieren lassen - könnte der Leser annehmen, dass die Jugend gar nicht so anders ist, als bei uns. Doch oft müssen sie für die Verwirklichung ähnlicher Träume viel Druck aushalten: Etwa eine junge Frau, die nicht heiraten will, oder Ökobauern, die nicht nur an den Profit ihres Geschäftes denken. „Was für eine Kraft da ist, Widerstände zu überwinden, fand ich beeindruckend“, sagt Jörg Endriss. Es sei ein Buch gegen das Klischee. Die Rebellen, die das Buch begleitet, sind keine lauten Rebellen. Sie veranstalten keine Massenproteste, macht Endriss klar. Es sind stille Rebellen, die dem Alten ihre Unterstützung entziehen. Viele haben bereitwillig mit den Autoren gesprochen - im privaten Rahmen sei es möglich, sich auch kritisch zu äußern. „Vieles wird als privater Freiraum toleriert, solange man nicht offen rebelliert.“ Auf der anderen Seite würden die Freiräume immer mehr eingeschränkt. „Wenn die junge Generation in 20 Jahren in den entscheidenden Positionen sitzt, ändert sich vielleicht doch tatsächlich was.“