Der Konflikt schwelt seit dem Frühsommer: Ferdinand Schaller, seit 38 Jahren Leiter der Wernauer Geschichtsstube, streitet sich mit der Stadt. Und mit einem Hobby-Historiker und dessen Familie. Schaller verweigerte die Herausgabe von Schriftstücken aus der Nazi-Zeit. Er sei durch ein Versprechen gegenüber der Leihgeberin gebunden, begründete Schaller seine Haltung. Bürgermeister Armin Elbl ließ darauf, in Absprache mit dem Gemeinderat, die Schlösser in der Geschichtsstube im Pfauhauser Schloss austauschen. Elbl: „Aufgrund dieser Differenzen war keine vertrauensvolle Zusammenarbeit mehr möglich.“
Das umstrittene Dokument ist mittlerweile im Beisein von Anwälten aus der Geschichtsstube geholt und der Leihgeberin überreicht worden, der früheren Haushälterin von Pfarrer Ernst Hofmann, einem Nazi-Gegner, der 1940 denunziert, von der Gestapo verhaftet und dann aus Wernau verwiesen wurde. Ob das Dokument Hinweise auf Denunzianten oder Verwicklungen von einflussreichen Wernauer Familien enthält, ist nicht bekannt. Laut Schaller nicht, es gehe nur darum, dass er der Erbin des Pfarrer-Nachlasses versprochen habe, das Papier nicht ohne ihr Einverständnis herauszugeben.
Auslöser dieses Zwists war eine Anfrage von Rolf Kehrer, Dokumente aus der Zeit um 1940 einsehen zu können. Der pensionierte Lehrer schreibt derzeit ein Büchlein über Josefine Stetter, die Tante seiner Frau. Die frühere Stadträtin „Fine“ gilt als Wernauer Original, hat diese Woche ihren 98. Geburtstag gefeiert, und ihr Wort zählt nach wie vor in der Stadt. Ihre Familie, so weiß Bürgermeister Elbl, war in der Nazi-Zeit Repressalien ausgesetzt, weil der Vater Josef Grupp ein entschiedener Gegner der Diktatur war. Laut Rolf Kehrer ist Josefine Stetter selbst als 17-Jährige von der Gestapo verhört worden. Hintergrund war eine von Pfarrer Hofmann initiierte Briefaktion Weihnachten 39 und Ostern 40. Die Pfauhäuser Gemeindemitglieder schrieben den Soldaten und die schrieben fleißig zurück - auch Dinge, die der Partei nicht gefielen. Fine Stetter verwaltete die Adressdatei und geriet deshalb ins Visier der Gestapo.
Kehrer vermutet, dass Schaller ein Schriftstück hat, in dem das Verhör erwähnt wird. Ihm gehe es nicht nur um das Schriftstück von Hofmann, sondern um die Soldatenbriefe. Die seien für manche Nachkommen immer noch wichtig, um das Verhalten ihrer Väter zu verstehen. Kehrer weist auf den Mann von Berta Baumann hin, der in ein Strafbataillon versetzt wurde und nie darüber gesprochen hatte.
Dass ausgerechnet ein Dokument, das dem Regimegegner Hofmann gehörte, einen Streit auslöst, als ein Buch über die regimefeindliche Familie Stetter/Grupp geschrieben werden soll, wirkt rätselhaft. Rolf Kehrer glaubt, dass Ferdinand Schaller das Thema Nationalsozialismus einfach ausklammern will. Schaller habe ihm Ende Mai gesagt, er wolle die „einseitige Stellungnahme“ der Familie Stetter nicht unterstützen. Kehrer betrachtet dies als „Sippenhaft, die besser in die Nazi-Zeit passt“, wie er an den Vorstand des Fördervereins Geschichtsstube schreibt.
Rechtlich kompliziert wird die Sache, weil Schaller 1982 einerseits zum ehrenamtlichen Leiter der Geschichtsstube ernannt worden ist, zum anderen Vorsitzender des Fördervereins Geschichtsstube ist. Und so gibt es in den Räumen im Pfauhäuser Schloss Papiere mit verschiedenen Zugriffsrechten. Die Doppelfunktion Schallers und die Eigentumsfrage hatte jahrzehntelang niemand gekümmert. Nun, im Konfliktfall, nahm Elbl sein Hausrecht wahr und ließ die Schlösser austauschen, damit der widerspenstige Vorsitzende auch nicht an die Papiere herankommen sollte. „Ich bedaure das sehr, aber es war notwendig“, sagt Elbl. Er sei in Gesprächen mit Schaller auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen.
Dem Gemeinderat habe er den Sachverhalt vorgetragen. Dieser habe sich einstimmig dafür ausgesprochen, die Schlösser zu wechseln und Schaller von seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Leiter der Geschichtsstube zu entbinden. Der Beschluss fiel nichtöffentlich.
Schaller beklagt die Art und Weise, wie die Stadt mit ihm und seinen Vereinsmitgliedern umgesprungen ist. Und er beklagt, dass allerhand Unterstellungen gegen ihn in Umlauf gebracht worden seien und Beleidigungen ausgesprochen wurden. Wer was gesagt und geschrieben haben soll, lässt Schaller trotz mehrfacher Nachfrage nicht heraus.
Am 10. September wurde das neue Türschloss geöffnet. Im Beisein von Rechtsanwälten beider Seiten sichtete Kreisarchivar Manfred Waßner alle Dokumente aus der Zeit von 1933 bis 1945. Das private Papier wurde an die Alleinerbin überreicht. Alle anderen Dokumente wird der Kreisarchivar auswerten. Zusammen mit Waßner werde man einen Weg suchen, wie die Geschichtstube weiter betrieben werden könne, sagt Elbl. Es sei höchste Zeit, so findet der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Elmar Müller, dass die Zeit der Nazi-Diktatur von einem unabhängigen Wissenschaftler aufgearbeitet werde. Müller war im Vorstand des Fördervereins und hat den Posten entnervt verlassen.